«Er fehlt»: 100 Jahre Helmut Schmidt

Foto: epa/Clemens Bilan
Foto: epa/Clemens Bilan

BERLIN/HAMBURG (dpa) - Er war ein Jahrhundertpolitiker aus Deutschland, für den kein Rauchverbot der Republik galt. Hanseat und Weltpolitiker. Gerade die Sozialdemokraten vermissen ihn sehr - auch wenn viele mit ihm als Kanzler haderten.

Einmal nahm Sigmar Gabriel seine Frau mit zur «Audienz». «Wir waren beim lieben Gott», sagte sie danach. Die Treffen liefen immer gleich ab: Helmut Schmidt stellte Gabriel eine Höflichkeitsfrage, kurze Antwort. Dann über 20 Minuten Referat Schmidts zur Weltlage, rauchgeschwängert von den Mentholzigaretten. Kein Wort zu Willy Brandt und immer die Frage: «Du hast doch auch gegen mich gestimmt?» Gemeint war der Nato-Doppelbeschluss und die Stationierung von US-Atomraketen in Deutschland. «Ja», antwortete Gabriel, aber er müsse rückblickend sagen: «Du hattest Recht».

Darauf Schmidt: «Du gibt es wenigstens zu!» Eine Million Menschen demonstrierte damals dagegen. Letztlich führte aber die von US-Präsident Ronald Reagan durchgesetzte Aufrüstung dazu, die Sowjetunion finanziell und wirtschaftlich in die Knie zu zwingen.

Am 23. Dezember wäre Schmidt 100 Jahre alt geworden. Als der von seinen Nachfolgern ausgebootete langjährige SPD-Chef Gabriel Mitte Dezember auf der Fraktionsebene im deutschen Bundestag die Anekdoten zum Besten gibt, kommen rasch Martin Schulz und andere Abgeordnete dazu. «Er fehlt», sagt einer, ein anderer meint mit Blick auf die legendäre Abneigung zwischen dem Visionär Brandt und dem hanseatisch trockenen Realpolitiker Schmidt: «Willy hat immer gesagt: Mit Helmut kannst Du über alles reden - nur nicht über Politik.»

Nach seiner Kanzlerschaft (1974-82) wurde Schmidt als Herausgeber der «Zeit» zum Mentor der Nation - über seinen Verdruss mit den aktuellen Zeitläufen machte er kurz vor seinem Tod (10. November 2015) keinen Hehl. «Es zeichnet politische Führer wie Churchill, de Gaulle oder Adenauer aus, dass sie nicht nur die nächste Wahl, sondern auch das langfristig Notwendige im Blick haben», schrieb er in seinem letzten Buch «Was ich noch sagen wollte». Er beklagte den «Trend, nur noch in Legislaturperioden zu denken.»

Was Schmidt wohl heute über Koalitionskrisen wegen eines Paragrafen 219a zum Werbeverbot von Abtreibungen denken würde, während derweil die westliche Allianz zerbricht, China seine globale Macht ausbaut und Großbritannien im Brexit-Chaos versinkt? Jüngst wurde in der Berliner SPD-Zentrale eine Fotoausstellung eröffnet. Dort sind auch private Bilder von Schmidt mit seiner Ehefrau Loki und qualmige Bilder aus Schmidts Kellerbar in Hamburg-Langenhorn mit dem damaligen französischen Präsidenten Valéry Giscard d'Estaing zu sehen.

«Die Bedeutung des Lebenswerks von Helmut Schmidt wird immer noch unterschätzt», sagte bei der Eröffnung der langjährige Erste Bürgermeister Hamburgs und heutige Bundesfinanzminister Olaf Scholz über sein Vorbild Schmidt.

Das Haus am Neubergerweg 80 in Langenhorn ist immer noch so, wie die Schmidts hier gelebt haben: Bücher und Bilder überall, die berühmte Bar - Schmidt war der persönliche Kontakt zu anderen Staatenlenkern wichtig. Was er wohl von Donald Trump halten würde? Seit 1961 wohnten Helmut und Loki Schmidt hier.

Sogar der sowjetische Staatschef Leonid Breschnew war in Langenhorn zu Besuch. Berühmt war die «Freitagsgesellschaft», zu der die Schmidts nach Abgaben der Stiftung rund 30 Jahre lang jeden zweiten Freitag im Monat Politiker, Unternehmer, Künstler, Ärzte und Wissenschaftler einluden. Neben ihrem Wohnhaus entstand schon vor Jahren ein Archiv, das Forschern offensteht. Schmidt hatte seit dem als Soldat überlebten Krieg alles festgehalten und gesammelt.

Auch Scholz und der bisher letzte SPD-Kanzler Gerhard Schröder waren einst gegen den Nato-Doppelbeschluss. Aber am Ende mündete das Wettrüsten in Abrüstungsverhandlungen, unter anderem im INF-Abrüstungsvertrag für Kurz- und Mittelstreckenraketen in Europa, den US-Präsident Donald Trump nun infrage stellt - weil Russland ihn verletze. Die Zeiten sind unübersichtlicher als der Kalte Krieg.

Schmidt würde an «Fake News» und Oberflächlichkeit verzweifeln. Der Altkanzler lebe mit seinem Werben für internationale Kooperation und ein gemeinsames Europa weiter, betont Scholz. Der SPD würde Schmidt heute zu mehr Attacke raten und von hektischen Kurswechseln nach links abraten, glaubt er. «Er würde sagen: Vergesst nicht, was wir gemeint haben, als wie die SPD zur Volkspartei weiterentwickelt haben.» Das sieht auch Schröder so: «Wenn die SPD etwas aus der Ära von Helmut Schmidt für heute lernen kann, dann ist es eines: Mehrheiten werden in der politischen Mitte gewonnen, nicht am Rand».

In der SPD gibt es wegen des Umfrageabsturzes auf 15 Prozent Strömungen, die in der Steuer- und Sozialpolitik stramm nach links wollen. «Mit seiner Politik konnte er breite Mehrheiten erreichen, weil er der SPD Kompetenz in den Bereichen Wirtschaft und innere Sicherheit verschaffte», betont Schröder. Die Wählergruppe, die man heute unter dem Begriff «Mitte» fasse, habe er bei den Wahlen 1976 und 1980 für die SPD mobilisiert.

Schmidt versuchte, die Lehren aus der finsteren Zeit des Nationalsozialismus und des Zweiten Weltkriegs in politisches Handeln umzusetzen. Er wurde ein Motor der europäischen Einigung, begründete die G7-Treffen - und warb unermüdlich für die deutsch-französische Aussöhnung. Als Hamburger Innensenator bewältigte er in seiner Heimatstadt die Folgen der Flutkatastrophe von 1962 - immer mit Loki an seiner Seite. 68 Jahre waren sie verheiratet. Sie starb 2010.

Bei der Trauerfeier im Hamburger Michel trug Schmidt beide Eheringe an der rechten Hand. 2012 bekannte er sich zu seiner neuen Freundin Ruth Loah, die seit Jahrzehnten zu Schmidts Vertrauten gehörte und ohne die er den Verlust von Loki nicht überlebt hätte, wie er sagte.

Für viele bleibt aus der Zeit als Kanzler vor allem das Bild des «Mannes von Mogadischu», der den Terroristen der Roten Armee Fraktion (RAF) die Stirn bot. Er und Loki ließen schriftlich hinterlegen, dass sie sich im Falle einer Entführung nicht gegen inhaftierte Terroristen austauschen lassen wollen. So verfuhr Schmidt auch beim in Köln gekidnappten Arbeitgeber-Präsidenten Hanns Martin Schleyer, der ermordet wurde. Schleyers Tod lastete schwer auf ihm.

Schmidts großes Versäumnis war, sich nicht genug um das Thema Ökologie gekümmert zu haben. Er setzte auf Atomkraft und wollte sie sogar zum deutschen Exportschlager machen. Noch heute resultiert aus der Zeit eine umstrittene Atompartnerschaft mit Brasilien, inklusive Belieferung mit Brennstäben. Es kam zum Aufstieg der Grünen.

In der Wochenzeitung «Die Zeit» nannte Gabriel jüngst Schmidt eine «Jahrhundertgestalt». Er sei kein blutleerer Macher und distanzierter Welterklärer gewesen, sondern ein «überzeugter europäischer Patriot», der «sein politisches Handeln aus ethischer Verantwortung und aus der Pflicht, dem Gemeinwohl zu dienen, ableitete», so Gabriel. Das habe ihn zeitlebens mit seiner Partei verbunden.

Einen seiner letzten Wahlkampfauftritte hatte er 2013 in Brandenburg mit dem damaligen Bundestagsfraktionschef Frank-Walter Steinmeier. Seine Worte wirken aus heutiger Sicht fast prophetisch. Er sorgte sich um die künftige Stellung Europas, warnte vor einer Krise des Westens und verwies auf die ungeheure Dynamik Chinas.

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