Entschlüsselte Chats von Kriminellen

«Segen und Fluch»

Eine Frau hält ein Smartphone mit dem Logo des Krypto-Messengerdienstes Encrochat. Foto: Sebastian Kahnert/dpa
Eine Frau hält ein Smartphone mit dem Logo des Krypto-Messengerdienstes Encrochat. Foto: Sebastian Kahnert/dpa

BERLIN: Die Entschlüsselung von Chats auf Kryptohandys von Kriminellen hat Polizei und Justiz viele Erkenntnisse gebracht - aber auch einen Haufen Arbeit. Erste Resultate liegen vor. Nun drohen neue kniffelige Verfahren.

Pseudonyme, Codewörter für die Übergabe, Fotos von Drogen oder Waffen - bei ihrer Kommunikation mit verschlüsselten Kryptohandys wähnten sich Kriminelle in Sicherheit. Vor rund zwei Jahren jedoch gelang es europäischen Ermittlern, die Daten des Anbieters Encrochat zu knacken. Seitdem ringen Polizei und Justiz bundesweit mit einer Datenflut: Allein in Berlin geht es laut Staatsanwaltschaft um rund 1,6 Millionen Chatnachrichten und knapp 750 Nutzer. «Mit etwa 15 Prozent stammen überproportional viele Encrochat-User aus Berlin», sagt Oberstaatsanwalt Thorsten Cloidt, Leiter einer Abteilung für Organisierte Kriminalität.

In 40 Fällen hat die Berliner Staatsanwaltschaft bislang Anklage erhoben, etliche davon werden inzwischen beim Landgericht verhandelt. Mehr als 100 weitere Verfahren mit mindestens einem identifizierten Verdächtigen stehen nach Behördenangaben an, in weiteren neun Fällen müsse noch der Täter ermittelt werden. Auch in Hamburg gehören solche Prozesse inzwischen zum Alltag, in zwei Verfahren geht es etwa um den Schmuggel von mehreren Tonnen Kokain.

«Das Gros der Verdächtigen in den Verfahren sind Personen, die wir noch nicht auf dem Schirm hatten», sagt Staatsanwalt Cloidt, der in der Hauptstadt seit langem für Clan- und Rockerkriminalität zuständig ist. Einen Bezug zur Clankriminalität gebe es weniger, Rocker seien häufiger betroffen. Meist gehe es um Drogenhandel. Auffällig sei die hohe Taktung der Taten, weniger die Mengen des Rauschgifts. «Die Leute waren sich offensichtlich sicher, dass die Daten nicht entschlüsselt werden können», so Cloidt.

«Das System war für Kriminelle gedacht», sagt sein Kollege Reiner Pützhoven. Der Oberstaatsanwalt leitet die Schwerpunktabteilung, die zu Jahresbeginn bei der Berliner Staatsanwaltschaft eingerichtet wurde, um der Datenflut Herr zu werden. Zuvor hatte die Polizei in den Niederlanden und Frankreich im Frühjahr 2020 die Software der Firma Encrochat geknackt und einige Monate lang insgesamt mehr als 20 Millionen geheime Chat-Nachrichten abgeschöpft. Zwischenzeitlich hat der Bundesgerichtshof (BGH) entschieden, dass diese in Deutschland verwertet werden dürfen, wenn es um die Aufklärung schwerer Straftaten geht.

Die Daten seien eine «wahre Goldgrube» als Ansatz für diverse Ermittlungsverfahren, sagt der Berliner Landessprecher der Gewerkschaft der Polizei (GdP), Benjamin Jendro. «Wir hatten selten zuvor mit einer derart offenen Kommunikation von kleinen und großen Fischen aus der Organisierten Kriminalität zu tun, so dass eine geöffnete Ermittlung schnell zu einem Stich ins Wespennest wird und wir Probleme bekommen, alles auch in der gegebenen Zeit zu beackern.»

Ermittler und Justiz sind sich einig: Wegen der vielen Verfahren und der großen Datenmengen ist die Entwicklung «Segen und Fluch» zugleich. Denn die Ermittlungen müssen zügig geführt werden, weil die Verdächtigen in Untersuchungshaft sitzen, was zeitlich nur begrenzt möglich ist. Bundesweit haben Polizei und Justiz reagiert und spezielle Abteilungen eingerichtet sowie Personal aufgestockt. In Hamburg etwa wurden nach Angaben des Deutschen Richterbundes befristet 28 neue Stellen für Richterinnen, Staatsanwälte und Servicepersonal geschaffen.

«Kryptohandys werden uns die nächsten Jahre beschäftigen», ist Cloidt überzeugt. Die nächsten kniffeligen Verfahren rollen bereits auf die Ermittler zu: Im Frühjahr hatte es erste Berichte gegeben, dass die EU-Polizeibehörde Europol Ende 2020 die Verschlüsselung des Kommunikationssystems Sky ECC geknackt und viele Millionen Chat-Nachrichten von Nutzern aus der ganzen Welt gesichert habe. Der Datenbestand soll bis zu viermal so groß sein wie der bei Encrochat.

Hamburg und Bremen zählen wegen ihrer Häfen neben Berlin zu den Hauptumschlagplätzen der Drogenkriminalität. Nach einer Umfrage des Richterbundes waren in Hamburg bereits im vergangenen November mehr als 200 Encrochat-Verfahren bei den Staatsanwaltschaften in Bearbeitung, in Bremen waren es knapp 150. Auch in Nordrhein-Westfalen gibt es demnach Hunderte Fälle wegen Verdachts Organisierter Drogenkriminalität, ein Schwerpunkt liegt mit mehr als 300 Fällen in Dortmund. In mehr als 1000 Fällen säßen die Beschuldigten in Untersuchungshaft, hieß es mit Verweis auf Angaben des Bundeskriminalamtes.

Erste Verurteilungen aufgrund sichergestellter Encrochat-Daten gab es inzwischen etwa in Schleswig-Holstein, wo das Landgericht Kiel nach Angaben des Landeskriminalamts vor kurzem Haftstrafen zwischen viereinhalb und fast sieben Jahren gegen drei Männer verhängte. In Nordrhein-Westfalen sind Urteile mit Haftstrafen von sieben und acht Jahren Haft wegen Drogenhandels rechtskräftig, wie das Justizministerium in Düsseldorf mitteilte.

Der Berliner Staatsanwalt Cloidt rechnet in den meisten Verfahren mit langen Haftstrafen. Angesichts der freigiebigen Unterhaltungen in den Chats sei die Beweislage oft eindeutig. «Da bleibt dem Beschuldigten nur noch eine Schadensminimierung, indem er umfassend aussagt», erklärt Cloidt. Auf dieser Basis könnten sich die Prozessbeteiligten dann auf eine niedrigere Strafe verständigen - und auf diese Weise lange Hauptverhandlungen vermeiden. «Das ist unsere Hoffnung», so Cloidt.

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