Endlich zu Hause

Kirill Petrenkos Bregenzer Mahler-Zyklus

Foto: epa/Sophia Kembowski
Foto: epa/Sophia Kembowski

BREGENZ (dpa) - Seit gut zehn Jahren erarbeitet Stardirigent Kirill Petrenko mit dem Symphonieorchester Vorarlberg in Bregenz einen Mahler-Zyklus. Jetzt steht die monumentale Achte auf dem Programm. Was treibt den Maestro in die österreichische Provinz?

Der kleine Mann mit dem krausen schwarzen Haar stürmt strahlend in den Saal, wo die Musiker auf ihn warten, er reißt die Arme hoch, wie ein Fußballfan, ein breites Grinsen auf dem Gesicht. Endlich wieder daheim, könnte man aus seinen Zügen herauslesen. Dann beginnt die Probe zu Gustav Mahlers 8. Symphonie, die den Beinamen «Symphonie der Tausend» trägt. Konzentriert und akribisch arbeitet Kirill Petrenko, der große Dirigent und neue Chef der Berliner Philharmoniker, auch in Bregenz mit dem Symphonieorchester Vorarlberg, wo das monumentale Werk am Donnerstag (16. Mai) und Samstag (18. Mai) im Festspielhaus aufgeführt wird.

«Viele kennen ihn hier schon seit seinem Studium am Landeskonservatorium Feldkirch», sagt Heiko Kleber, Paukist im Symphonieorchester Vorarlberg, «Alle sind per Du mit ihm. Er ist ein Promi, natürlich, aber bei uns ist er immer noch wie früher.» Nicht ein Wort rede er über Berlin, wo Petrenko gerade seine erste Saison als neuer Chefdirigent der Berliner Philharmoniker vorgestellt hat. «Er ist jetzt hier in Bregenz und probt mit uns Mahlers Achte.»

Wie kommt dieser Mann, den viele in der Fachwelt für den besten lebenden Dirigenten halten, in die österreichische Provinz? Warum erarbeitet der Musiker mit einem wenig bekannten Orchester seit 2008 einen kompletten Mahler-Zyklus? Ein Künstler, dem die Musikfans zu Füßen liegen, der mit seinen 47 Jahren eigentlich schon alles erreicht hat, wovon Dirigenten träumen mögen. Fehlte nur noch das Wiener Neujahrskonzert für den Grand Slam der klassischen Musik.

Um diese Frage zu beantworten, muss man sich in Petrenkos Jugend vertiefen. Die jüdisch stämmige Familie Petrenko, Vater Violinist, Mutter Musikwissenschaftlerin und Dramaturgin, stammt aus dem sibirischen Omsk und übersiedelte 1990 nach Österreich, wo der Vater beim dortigen Symphonieorchester eine Stelle antrat. Damals wirbelte Gorbatschows Perestroika die Sowjetunion durcheinander, Angriffe gegen Juden nahmen zu, zugleich wurden die Ausreisebestimmungen gelockert. Das nutzten viele Juden zur Ausreise, auch die Petrenkos.

Drei Jahre lebte der junge Kirill im zweitkleinsten österreichischen Bundesland, wo er am Landeskonservatorium ein Klavierstudium mit Bravour abschloss. Ohne Deutschkenntnisse kam der junge Mann aus dem fernen Sibirien an den Bodensee. Sein Lebensziel schon damals: Dirigent. «Er war ein Überflieger», erinnert sich Kleber. «Da sind sogar die Professoren manchmal nicht mehr mitgekommen.»

In einem Interview spricht Petrenko selbst von einer «irrsinnig nützlichen Zeit» in Feldkirch. Er habe viel Musik kennengelernt, die er in Russland nicht gekannt habe: alte Musik, Barockmusik, Mahler und Bruckner. Er sang in Chören mit, assistierte bei Opern im Landestheater Bregenz, korrepetierte mit Mitstudenten. «Das war seins, das war immer zu spüren», sagt Kleber.

Mit dem Klavierdiplom in der Tasche ging Petrenko nach Wien, um dort das Dirigierhandwerk zu lernen. Dann ging es Schlag auf Schlag: Kapellmeister an der Volksoper Wien, Generalmusikdirektor (GMD) der Meininger Hofkapelle, wo er mit Richard Wagners «Ring des Nibelungen» international auf sich aufmerksam machte, GMD an der Komischen Oper Berlin, Debüts bei den Wiener und Berliner Philharmoniker, GMD in München, Bayreuther und Salzburger Festspiele. Ab September ist er Chef der Berliner Philharmoniker und Nachfolger von Pultlegenden wie Arthur Nikisch, Wilhelm Furtwängler, Herbert von Karajan, Claudio Abbado und Sir Simon Rattle.

Der immer etwas schüchtern wirkende Petrenko scheint seine Wurzeln nicht zu vergessen. 2008 begann er mit dem Symphonieorchester Vorarlberg einen Zyklus Mahler 9 x 9 mit allen Symphonien des Meisters. «Den zieht er mit uns durch, obwohl er ja sagen könnte, das er jetzt so viele Angebote hat, dass er sich diese Ausflüge nicht mehr leisten könne», sagt Kleber. Neben seiner Heimatverbundenheit kommt Petrenko auch die in Bregenz mögliche, intensive Probenarbeit zugute. «Bei uns bekommt er sieben bis acht Termine, anderswo nur zwei bis drei, und kann jeder Symphonie seinen Stempel aufdrücken.»

Der Weltbürger Petrenko ist eben auch ein Vorarlberger, hier begann alles, hier lebte bis heute seine Mutter, der Vater ist vor ein paar Jahren gestorben. Vor zwei Jahren sagte Petrenko in einer Probe mit dem Symphonieorchester Vorarlberg, es sei schade, dass der Bregenzer Mahler-Zyklus bald zu Ende sei. Aber man könne ja einen Zyklus aller Haydn-Symphonien angehen. Joseph Haydn war fleißiger als Mahler: Er komponierte nicht neun, sondern mehr als hundert Symphonien.

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