Kennen sie das? Keiner meldet sich, keiner ruft an, keiner schickt eine Mail. Nichts. Man lebt im Ausland, hat einige Freunde und Bekannte, aber keiner lässt von sich hören. Man fühlt sich dann sehr allein.
Einsamkeit ist wie eine Krankheit. Abgeschnitten von allen Kontakten, völlig allein, kann man so leben? Der Mensch ist ein soziales Wesen, angewiesen auf Beziehungen zu anderen Menschen. Der Eremit, der seit Jahren allein in seiner Höhle meditiert, ist die große Ausnahme. Wie entgeht man der Einsamkeit? Klar, indem man sich anderen anschließt, Einzelnen oder einer Gruppe. Aber auch das klappt nicht immer. Das kann an einem selbst oder an den anderen liegen. Und was passiert, wenn man nach vielen Versuchen immer noch einsam ist? Oft gibt man sich selbst die Schuld. Wenn alle anderen in der Lage sind sich zu verbünden, ich aber nicht. Das kann doch nur an mir liegen. Man entwickelt dann oft eine Art von Selbsthass, der dieses Problem nur noch vertieft. Irgendwann wird man zum Einzelgänger und mit der Zeit von allen bewusst gemieden. Ein Leben in einer Blase, abgeschlossen von der Welt. Erst geht die Familie verloren, dann die Freunde, die Bekannten und dann? Einige entscheiden sich in solchen Situationen für den Suizid. Aber das ist keine Lösung. Diese Einsamen brauchen professionelle Hilfe, Menschen, die sie aus ihrer oft selbst verursachten Festung befreien. Fast jeder von uns kennt so einen Einzelgänger. Man nennt sie häufig „Käuze“ und bezeichnet ihr merkwürdiges Verhalten als verrückt. Meine Kenntnis über diese Leute beruht auf vielen persönlichen Begegnungen.
Da war jener Mann, dem ich begegnete, als ich mich zu ihm auf die Bank setzte. Er stand sofort auf und wollte gehen. Ich bat ihn zu bleiben. „Wozu?“, entgegnete er, „ich habe schon genug Schläge bekommen, die immer als Gnadenakte begannen und als Drama endeten.“ Schließlich ließ er sich überreden, nahm sogar eine Zigarette von mir an. Danach traf ich ihn öfter. Ich glaubte, er hätte ein gewisses Vertrauen zu mir gefunden, denn er öffnete einen Spalt breit die Tür für einen kurzen Blick in sein verzweifeltes Leben. Irgendwann verriet er mir wo er wohnte. Ich versuchte ihn zu besuchen. Aber die Klingel war abgestellt. Nur in seiner Wohnung brannte Licht, bis es nach dem zweiten Läuten plötzlich abgeschaltet wurde. Ich habe ihn danach nie wiedergesehen.
Später, als ich mich bei der „Tafel“ engagierte, fiel mir eine Frau auf, die einmal in der Woche auftauchte, um abgelaufene, gespendete Lebensmittel entgegen zu nehmen. Sie erzählte von ihren vielen hungrigen Haustieren. „Tieren? Sie meinen Kinder.“ – „Nein, die haben sie mir doch alle weggenommen.“ Ich erbot mich, ihr die Tasche mit den Lebensmitteln nach Haus zu tragen. Ich versuchte ein Gespräch, aber sie blieb stumm. Nach einem Fußmarsch von einer halben Stunde sagte sie: „So, hier wohnen wir.“ Ich fragte sie, ob ich mit hereinkommen dürfte. Sie überlegte lange. Dann entgegnete sie: „Okay, aber nur, wenn Sie mich nicht verraten.“ Ich versprach es ihr. Ihre Wohnung bestand aus einem alten, total heruntergekommenen Einfamilienhaus. Schon als sie die Haustür öffnete, schlug mir ein unerträglicher Gestank entgegen. Und dann sah ich all den Dreck und Müll, den sie angesammelt hatte. Sie war, wie man sagt, ein Messie, ein Mensch, dessen Syndrom sich im Beschaffen und Horten aller unnötigen Objekte definiert. Ich sah, dass ihre beiden Zimmer zugemüllt waren, und ihr Bett unerreichbar für sie war. Sie schlief direkt vor der Tür auf einer völlig verdreckten Matratze, neben vergammelten Lebensmitteln und stinkenden Abfällen. Ich hielt mich nicht an mein Versprechen und informierte das Sozialamt. Ich bekam zur Antwort, das Problem sei bekannt, aber diese Person lehne jede Hilfe ab. Mit anderen Worten: Ihr war nicht zu helfen.
Wer durch den Tod des Lebensgefährten in die Einsamkeit gerät, kann auch oftmals wunderliche Eigenheiten entwickeln. Mein früherer Lehrer hatte keine Kinder, keine Verwandten, nur seine Frau. Seit sie verstarb, das ist jetzt drei Jahre her, geht es jeden Tag bei Regen und Schnee auf den Friedhof und sitzt dort stundenlang auf einer Bank in der Nähe ihres Grabes. Er ist verstummt und nicht ansprechbar. Er kennt mich wohl auch nicht mehr. Nur ein einziges Mal ist es mir gelungen, ihm einen Satz zu entlocken: „Ich warte darauf, dass meine Frau zu mir zurück kommt.“ Aus seiner Einsamkeit kann wohl keiner ihn befreien.
Die Veränderung der Welt, der Weg von der Familie zum Single befördert diese Krankheit deutlich. Wenn diese Singles ihren Höhepunkt überschritten haben, werden sie ebenfalls oft zu vereinsamten Menschen. Die Freunde, mit denen man viele Jahre lang ausgelassen und fröhlich gefeiert hat, verlieren sich irgendwo im Nebel. Neue Beziehungen im Alter anzubahnen erweisen sich als immer beschwerlicher. Hinzu kommt, dass diese allein lebenden älteren Menschen Eigenarten angenommen haben, die sie nicht ablegen können oder wollen und die mögliche Bezugspersonen nicht zu akzeptieren bereit sind. So bleibt schließlich jeder für sich allein, fern aller sozialen Kontakte, einsam, traurig und verstört. Viele Wissenschaftler sehen darin die Gründe für ernsthafte Erkrankungen, wie Schlaganfälle, Herzinfarkte und Depressionen. Und nicht zuletzt für Suizide. Wer tagaus tagein mit der Frage umhergeht: „Wozu lebe ich noch?“, wird wohl irgendwann zu der Einsicht kommen: „Es ist besser, wenn ich verschwinde.“ Als Erste und Einzige hat die britische Ministerpräsidentin Theresa May das Problem erkannt und ein Ministerium gegen Einsamkeit geschaffen.
Wieder andere alte und verarmte Menschen schämen sich und verzichten auf die ihnen zustehende Sozialhilfe, igeln sich ein im bittersten Elend. In Thailand liegt die Zahl der Selbsttötungen weltweit an der Spitze, umgerechnet auf die Bevölkerungsdichte. Die Gründe dafür sind wissenschaftlich nicht aufgearbeitet, aber Einsamkeit oder Verlassenheit werden dabei sicher die Hauptursache sein. Allein in meinem Condominium haben sich im letzten Jahr sechs Menschen in die Tiefe gestürzt, verzweifelt, vereinsamt und verlassen.
Ich freue mich, regelmäßig meine Freunde zu treffen, mit ihnen zu essen, zu trinken und zu diskutieren über alle möglichen Themen. Über Einsamkeit haben wir noch nie gesprochen. Betrifft uns nicht.
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