Ein Schatz aus Knochen

Grabung in Österreich soll Forschern helfen

Skelettlage im großen Sammelgrab 1 auf dem Domplatz. Mehr als 22 000 Skelette haben Archäologen in fast zehn Jahren hier geborgen. Foto: -/Stadtmuseum St. Pölten/dpa
Skelettlage im großen Sammelgrab 1 auf dem Domplatz. Mehr als 22 000 Skelette haben Archäologen in fast zehn Jahren hier geborgen. Foto: -/Stadtmuseum St. Pölten/dpa

ST. PÖLTEN (dpa) - Gleich unter dem Asphalt lagen die Toten. Mehr als 22 000 Skelette haben Archäologen in St. Pölten in Niederösterreich geborgen. Dank ihrer Güte könnten die Knochen manche Forschung beflügeln.

Die letzten vier Skelette liegen neben den Mauern römischer Ruinen. Dort wurden die Männer oder Frauen vor rund 1.000 Jahren bestattet. Ihre Bergung ist der Abschluss einer fast zehnjährigen Grabungsaktion, die ihresgleichen sucht. «Wir haben jetzt genau 22.134 Skelette gefunden», sagt Stadtarchäologe Ronald Risy. Unter dem Domplatz von St. Pölten in Österreich waren die Forscher auf einen Friedhof ungeahnten Ausmaßes gestoßen.

Zwischen dem 9. Jahrhundert und 1779 - von da an mussten auf Weisung von Kaiser Joseph II. die Toten außerhalb der Stadt bestattet werden - wurden die Leichen dort meist ohne viel Aufhebens auf einer Fläche von der Größe eines mittleren Fußballfelds verscharrt. Die jetzt angehäufte Skelett-Sammlung gilt in Umfang und Güte als einzigartig. «Es ist ein Bio-Archiv, das sonst keiner hat», so Risy.

Dank der günstigen Eigenschaften des Bodens seien die Knochen in einem ausgezeichneten Zustand, sagt Fabian Kanz vom Fachbereich Forensische Anthropologie der Medizinischen Universität Wien. «Das ist ein Schatz», so der Anthropologe über den nun möglichen Blick auf ein lokales Zeitfenster von rund 1.000 Jahren.

DNA, Proteine, Spurenelemente und Isotope seien gut konserviert - und könnten nun möglicherweise Antworten auf viele Fragen zu den Lebensumständen, den Krankheiten, der Anpassung an verregnete Jahrzehnte oder viele heiße Sommer liefern. Die Knochen und ihre noch verborgenen Botschaften könnten sogar Bausteine liefern für die Entwicklung neuer Medikamente und Therapieansätze, hofft Risy.

Eine Streitfrage der Medizingeschichte ist laut Kanz nun mit Hilfe eines Funds endgültig entschieden. Ein etwa siebenjähriges Kind war schon im Mutterleib mit der Syphilis infiziert worden und entwickelte die für die Geschlechtskrankheit typischen Zahnmissbildungen. Da das Kind mindestens 50 Jahre vor den Reisen von Christoph Kolumbus nach Amerika gestorben sei, sei klar, dass Formen der Syphilis schon vor der Rückkehr des Entdeckers in Europa existierten, so Kanz. Bisher habe vielfach gegolten, «dass die Besatzung von Kolumbus als Patient Null die Krankheit aus Amerika mitgebracht hat», so der Osteologe.

Am Anfang der Grabung stand der Wunsch der Stadt, den als Parkplatz genutzten Domplatz attraktiver zu machen. Erste Arbeiten bestätigten, was frühere Sondierungsgrabungen schon signalisierten: Das Ganze wird ein Fall für die Archäologen. «Wer zerstören möchte, muss die Grabung zahlen», sagt Risy. Aus geplanten drei Jahren wurden zehn. Die Stadt hat das Projekt laut Risy rund zehn Millionen Euro gekostet, die angesichts des wissenschaftlichen Werts aber ohne Murren gezahlt worden seien.

Abgesehen von den Skeletten wurden auch Glas, Keramik und Tausende Münzen sowie mehr als 11.000 Metallgegenstände wie Fibeln, Ringe, Gürtelschnallen und Anhänger gefunden, die nun in 900 Kartons lagern. Überreste von Särgen gibt es kaum, meistens wurden die Toten nur in Leinentücher gewickelt.

Auffällig sei der hohe Kinderanteil unter den Funden menschlicher Überreste, meint Risy. Etwa die Hälfte der Toten habe das Erwachsenenalter nicht erreicht. Ein signifikanter Überschuss sei für die Altersgruppe der Zehn- bis 14-Jährigen festzustellen, sagt Kanz. Dies deute darauf hin, dass Eltern aus ländlichen Regionen ihren Nachwuchs zum Arbeiten in die Stadt geschickt hätten.

Besonders aufschlussreich könnte für die Forscher die Untersuchung der Zähne sein. «Der Zahnstein ist ein Bakterienfriedhof im Mund, der Auskunft gibt über die Krankheitserreger», so Kanz. Bei Analysen des Zahnschmelzes sei aufgefallen, dass bestimmte Entzündungsproteine im Mittelalter nicht auftauchten, davor und danach aber schon. Krebsarten wie Brust- und Prostatakrebs waren laut Kanz auch damals verbreitet.

Aktuell lagern die Gebeine in einem Gebäude am neuen Friedhof der 55.000-Einwohner-Stadt. Aus dem Provisorium soll - wenn es nach dem Willen von Risy geht - ein modernes Beinhaus mit Andachtsbereich und Besucherzentrum werden. Aus Gründen der Pietät wären dann die Knochen in einem eigenen Raum gelagert, der nur durch ein Fenster einsehbar sein solle, meint Risy. Zugang hätten nur die Wissenschaftler.

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