Zwischen Angst und Widerstand

Ein Jahr Proteste  

Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko. Foto: epa/Maxim Gutschek
Weißrusslands Präsident Alexander Lukaschenko. Foto: epa/Maxim Gutschek

MINSK: Hunderttausende gingen in Belarus auf die Straße - gegen Machthaber Lukaschenko. Der 66-Jährige geht noch immer massiv gegen seine Gegner vor. Was ist aus den Menschen geworden nach den Protesten?

Witali ist wütend auf Machthaber Alexander Lukaschenko. Witalis Sohn ist erst vor wenigen Tagen in Belarus zu zweieinhalb Jahren Straflager verurteilt worden. Weil der 21-Jährige an seiner Universität gegen Lukaschenko protestiert hat. «Dieses Urteil ist völlig willkürlich, ohne Beweise, ohne rechtliche Grundlage», schimpft der Familienvater. Der 50-Jährige sitzt in einem Café und erzählt seine Geschichte. Er will am Fenster seinen Espresso trinken, damit er sieht, falls die Polizei anrücken sollte. Ein Jahr nach der Präsidentenwahl herrschen in Belarus Angst und Misstrauen.

Die Polizei nahm Witalis Sohn Ilja vor etwa acht Monaten in der Hauptstadt Minsk fest. Es war vor allem die junge Generation, die nach der Wahl darauf hoffte, dass ein neues Leben mit echten Perspektiven und guten Verdienstmöglichkeiten wie in der EU beginnt. Ilja will Architekt werden. «Es geht ihm den Umständen entsprechend gut, er lächelt, aber er wirkt blass», sagt Witali der Deutschen Presse-Agentur. In der Zelle sind noch zwölf andere inhaftiert.

Für Viele in der Ex-Sowjetrepublik hat sich das Leben verändert. Seit sich Lukaschenko am 9. August bei der Präsidentenwahl mit 80,1 Prozent der Stimmen nach mehr als 25 Jahren an der Macht im Amt bestätigen ließ, rebellieren Viele gegen den 66-Jährigen. Nach der Abstimmung gingen Hunderttausende monatelang jedes Wochenende aufs Neue auf die Straße. Lukaschenko ließ die Proteste mitunter blutig niederschlagen und blieb so an der Macht. Minsk zeigt sich an diesem heißen Sommertag Ende Juli zumindest nach außen hin wie eh und je.

Moderne Elektrobusse rollen durchs Zentrum mit seinen prächtigen Häusern. Immer wieder rasen Kleinbusse mit getönten Scheiben durch die Straßen. Aus solchen Fahrzeugen sind bei den Protesten vermummte Sicherheitskräfte gesprungen und haben scheinbar wahllos Menschen weggezerrt und mitgenommen. Viele solcher Kleinbusse transportieren nun Fahrgäste. Nur lässt sich das nicht immer von außen erkennen.

«Wir müssen vorsichtig sein», sagt ein 32-Jähriger beim Spaziergang und wird plötzlich nervös. Ein kleiner Transporter ohne Fenster steht halb auf dem Gehweg. Der Mann mit Bart und Brille ist bereits zweimal festgenommen worden. 15 Tage saß er vor einigen Monaten im Gefängnis, weil er demonstrierte. Seinen Namen will er nicht öffentlich lesen. Tage nach dem Gespräch bittet er darum, auch nichts über seinen Beruf zu schreiben. Wie viele seiner Landsleute ist er von der Gewalt der Polizei eingeschüchtert. Mehr als 500 politische Gefangene gibt es.

Der 32-Jährige trägt einen Rucksack bei sich. Darin stecken Socken, Unterwäsche und Hygieneartikel. «Für den Fall einer Festnahme», sagt er und zeigt auf ein Gebäude, wo er mal gearbeitet hat. Ihm wurde nach der Festnahme gekündigt. Viele andere - von der IT bis hin zur Medizin - kehrten ihrer Heimat den Rücken. Der 32-Jährige aber will bleiben: «Ich kann meinem Land in Minsk mehr helfen als im Ausland.»

Doch allein 2020 ist die Einwohnerzahl von Belarus (Weißrussland) laut offizieller Statistik um 60.000 auf 9,3 Millionen gesunken - wegen der Corona-Pandemie, aber auch wegen Abwanderung. Die Anführer der Massenproteste sitzen entweder im Gefängnis oder mussten ins Ausland fliehen. Ihnen ist es nicht gelungen, den als «letzten Diktator Europas» kritisierten Lukaschenko zu stürzen.

Viele bauen sich in der EU ein neues Leben auf. Inga ist eine von ihnen. Sie lebt jetzt in Bayern, vorher in Minsk. «Sie laden mich immer noch zum Verhör vor den Untersuchungsausschuss», berichtet sie. Die 40-Jährige hatte Videos für Viktor Babarikos Wahlkampf gedreht. Der aussichtsreichste Herausforderer von Lukaschenko war vor der Wahl verhaftet und Anfang Juli zu 14 Jahren Straflager verurteilt worden.

Lukaschenko sieht sich zwar ein Jahr nach der Wahl als Sieger. Doch der Preis ist hoch. Die Menschen sind verängstigt und unsicher. Die Stimmung im Land, das der 66-Jährige mit Hilfe von Russlands Staatschef Wladimir Putin mit harter Hand führt, ist bleiern. Viele warten darauf, dass der Machthaber seinen Posten räumt. In russischen Medien wird vielfach darüber spekuliert, dass Russland irgendwann einen neuen moskautreuen Statthalter einsetzen könnte.

Danach sieht es im Moment nicht aus. Die autoritären Behörden gehen seit Wochen gegen Nichtregierungsorganisationen und gegen unabhängige Medien vor. Der vom großen Nachbar Russland finanziell gestützte Lukaschenko bezeichnet Aktivisten der Zivilgesellschaft immer wieder als «Terroristen» oder als «Banditen und ausländische Agenten».

Doch Lukaschenko findet durchaus Rückhalt in Teilen der Bevölkerung. «Ich fühle mich in Belarus sicher, es gibt kaum Kriminalität», sagt die 30 Jahre alte Julia. Solche Aussagen sind im Staatsfernsehen oft zu hören, ohne kritische Stimmen. Von der ins EU-Ausland geflohenen Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja, die die Opposition als Siegerin der Präsidentenwahl sieht, hält die Lehrerin dagegen wenig. Andere blenden die Politik komplett aus ihrem Alltag aus.

An den Aufstand gegen Lukaschenko erinnert zumindest im Zentrum von Minsk mit seinen knapp zwei Millionen Einwohnern nichts mehr. An den offiziellen Gebäuden weht die Staatsflagge. Der Protest ist leise geworden. Wer ihn spüren möchte, muss in die Wohngebiete fahren.

Kilometer von Lukaschenkos Palast entfernt klebt das Symbol der Opposition fast unscheinbar an Verkehrsschildern, an Treppenaufgängen oder Spielplätzen: die weiß-rot-weiße Flagge. Die kleinen Aufkleber werden schnell entfernt, wenn die Behörden sie entdeckten, wie ein Anwohner schildert. An den Wänden der schlichten Hochhäuser sind Parolen gegen den autoritären Machtapparat überpinselt worden.

Angesprochen auf die weiß-rot-weiße Fahne der Opposition lädt ein Mann mittleren Alters zu sich in die Wohnung. Im fünften Stock am Stadtrand hängt sie bei ihm, neben einem Regal. Von außen ist sie nicht zu sehen. Wer die Fahne etwa ins Fenster hängt, riskiert eine Haftstrafe. Die Behörden wollen sie nun als extremistisch einstufen und damit verbieten. Erlaubt ist nur die rot-grüne Staatsflagge.

Im Gefängnis saß der Mann aus Minsk noch nicht, auch wenn er im Herbst immer mal wieder protestierte. Für ihn hat sich seit der Wahl aber nichts geändert: Er geht arbeiten und trifft sich mit Freunden. Vor einigen Tagen ist allerdings eine Bekannte von ihm festgenommen worden. Sie hat für eine Nichtregierungsorganisation gearbeitet.

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