Ein Jahr nach Himalaya-Beben: Milliarden ungenutzt, wenig aufgebaut

Foto: epa/Narendra S
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KATHMANDU (dpa) - In Teilen Nepals sieht es so aus, als habe das Erdbeben erst vor wenigen Wochen das Land erschüttert. Ein Jahr nach der Katastrophe liegen Trümmer herum, und die Menschen leben unter Wellblech.

An einem steilen Himalaya-Hang sitzt Makha Thami auf einem Schemel, abgewandt von dem Haufen aus bröckelndem Lehm und Steinen, der einst ihr Zuhause war. Ein Jahr ist es her, dass ein gewaltiges Erdbeben in wenigen Sekunden alle Häuser in ihrem Dorf Suspa im Distrikt Dolakha in Nepal einstürzen ließ.

Seitdem lebt die 31-Jährige in einer Hütte aus Wellblech über einer Bambus-Konstruktion. «In der Winterkälte haben meine Kinder gelitten. Ihre Hände und Füße waren geschwollen», erzählt sie. In der Sommerhitze ist es in der Hütte so heiß, dass sie Kopfschmerzen bekommt. Und wenn der Monsunregen im Juli beginnt, kann sie nicht schlafen, weil die Tropfen so laut auf das Metall prasseln.

«Bei jedem Wind fürchte ich außerdem, dass es uns das Dach wegbläst», sagt sie. Doch an einen Wiederaufbau ihres Hauses kann Thami derzeit nicht denken. Nicht einmal den Schutthaufen kann sie abtragen, um nach ihrem Kochgeschirr zu graben, das noch darin liegt. Für all das fehlt ihr das Geld.

Mit diesem Problem ist Thami nicht allein. Das Erdbeben vom 25. April kostete etwa 9000 Menschen das Leben und zerstörte mehr als 600 000 Häuser. Millionen Menschen verloren Familienmitglieder, ein Dach über dem Kopf, Nutztiere wie Kühe und Hühner sowie Saatgut für die Felder. Und das in einem Land, das zu den 20 ärmsten der Welt zählt.

Von der Regierung in Kathmandu kommt bislang nur wenig Hilfe. 225 Euro hätten sie pro Haushalt bekommen, erzählen zahlreiche Menschen in den betroffenen Gebieten der Deutschen Presse-Agentur. Der einzige Beamte in seinem Dorf, sagt zum Beispiel Haribansa Thami, sei nach dem Erdbeben davongerannt. «Ich bin wütend auf die Regierung. Wir wählen sie in der Erwartung, dass sie etwas für uns tun, doch nach der Wahl lehnen sie sich zurück und werden träge.»

Erste Hilfsgüter wie Zeltplanen und Reissäcke haben die Menschen in den Tagen und Wochen nach dem Erdbeben irgendwann erreicht, auch dank unzähliger internationaler Organisationen und nepalesischer Bürgerinitiativen. Es ist der Übergang von der Soforthilfe zum Wiederaufbau, der nicht klappt. Und das, obwohl Nepal bei einer Geberkonferenz 3,9 Milliarden Euro einsammelte.

«Angesichts der Herausforderungen war die unmittelbare Reaktion gut. Wir hatten keine großen Krankheitsausbrüche, etwa von Cholera. Auch durch den Winter kamen wir mit wenigen Toten», sagt Mattias Bryneson, Nepal-Direktor der Organisation Plan International. Nun aber bewege sich die Regierung viel zu langsam. «Wenn es jetzt keine Projekte gibt, in welche die vier Milliarden fließen können, dann wird das zugesagte Geld wieder abgezogen.» Auch Max Santner, Nepal-Direktor des Roten Kreuzes meint: «Das Geld liegt nicht auf dem Tisch.»

Ein Teil der Hilfsgelder soll direkt an die Betroffenen gehen. Doch es dauerte fast ein Jahr, bis Mitte April die ersten 600 Familien einen Teil der versprochenen 1660 Euro erhielten. «Was die Regierung sich leistet, ist unfassbar», sagt Elitsa Dincheva von SOS-Kinderdörfer. Auch Hilfsorganisation könnten noch immer keine Wohnhäuser für die Menschen bauen - wegen fehlender Vorgaben der Regierung.

Also leben Hunderttausende Menschen weiter in Provisorien. Auf vielen lasten außerdem Schulden. Thami und ihr Mann hatten für den Bau ihres bescheidenen Hauses, das nun eingestürzt ist, Kredite von rund 4000 Euro aufgenommen. Ihr Mann arbeitet in Saudi-Arabien, um die Kredite abzubezahlen. Bislang gelingt das nicht, denn wie viele Nepalesen hat das Paar sich privaten Geldverleihern anvertraut - und muss 36 Prozent Zinsen zahlen.

Nach Angaben der Vereinten Nationen hat jede dritte Familie in Nepal ein Mitglied, das im Ausland lebt. Denn in der Heimat findet die Jugend einfach keine Jobs. Stattdessen bauen die Arbeitsmigranten die Stadien für die Fußball-Weltmeisterschaft in Katar und schuften als Straßenbauer in Malaysia.

Es sind genau diese jungen, kräftigen Arme, die nach dem Erdbeben fehlen. Also müssen auch die Frauen den Schutt wegräumen, Wellblech für die provisorischen Hütten organisieren und schwere Steine für den Wiedaufbau herantragen. «Viele Haushalte werden jetzt von Frauen geführt», sagt Mohna Ansari von der Menschenrechtskommission Nepals. «Das ist ein Problem, etwa wenn es ums Geld geht, weil die Dokumente alle auf die Namen der Männer eingetragen sind.»

Die 50-jährige Perna Maya Thapa Magar zum Beispiel ist nun für ihre Familie verantwortlich. Zusammen mit ihrer Schwiegertochter schaffte sie es, zumindest ein Stockwerk ihres einst dreistöckigen Hauses wieder zu errichten. «Wir können jetzt auf unseren eigenen Füßen stehen», sagen sie. Ohne Männer. In der äußerst patriarchalisch strukturierten Gesellschaft Nepals ist das eine tapfere Aussage.

Doch von Gleichberechtigung könne keine Rede sein, finden die beiden. «Für Frauen gibt es immer mehr Arbeit als für Männer», sagt Thapa Magar. Nun putze sie, hole Wasser, koche, füttere die Tiere, kümmere sich um die Kinder - und verdiene auch noch als Tagelöhnerin hinzu. «Wir arbeiten von morgens früh bis in die Nacht. Jetzt nach dem Erdbeben sogar noch mehr als zuvor.»

Thami, deren Mann in Saudi-Arabien ist, ging einen besonders ungewöhnlichen Schritt. Als Plan International ins Dorf kam und nach Menschen suchte, die Wellblech-Hütten bauen, meldete sie sich für das Training. «Ich hätte nie gedacht, dass ich das einmal machen werde. Ich dachte immer, dass das ein Männer-Job ist», sagt sie.

Nun aber strotzt sie vor Selbstbewusstsein und will auch lernen, wie man richtige Häuser baut. «Wenn wir Frauen die Möglichkeit dazu bekommen, können wir alle Arbeiten erledigen», ist Thami überzeugt. Sie mache keinen Unterschied bei der Erziehung ihres zwölf Jahre alten Sohnes und ihrer acht Jahre alten Tochter.

Doch macht sie sich Sorgen um die Bildung ihrer Kinder. Tausende Schulen wurden bei dem Beben zerstört oder beschädigt, viele Kinder werden im Freien oder in Provisorien unterrichtet. «Es ist so traurig», klagt Lok Bahadur Lopchen Tamang, der im Distrikt Dolakha für Bildung zuständig ist. Bis heute habe er von der Zentralregierung noch keine Pläne für den Bau der Schulgebäude gesehen.

«Das läuft im Schneckentempo. Wenn die so weitermachen, wird es 20 Jahre dauern», schimpft Tamang. Dincheva von SOS-Kinderdörfer hingegen sieht die Schuldigen nicht nur in den Ministerien, sondern auf allen Ebenen. «Unsere Mitarbeiter wurden zu zehn verschiedenen Stellen geschickt, um Genehmigungen zu erhalten», sagt sie.

Eigentlich sollte der ganze Prozess von Nepals neu geschaffener Wiederaufbaubehörde (NRA) geleitet werden. Doch weil die notorisch zerstrittenen Politiker sich im vergangenen Jahr vor allem mit der Verabschiedung einer neuen Verfassung beschäftigten, kam die Behörde erst im Dezember zustande. Bis heute ist nur ein Teil der Stellen in der NRA besetzt.

Tausende Menschen in Nepal konnten und wollten nicht so lange warten. Vor allem in Kathmandu-Tal, wo die Menschen im Schnitt mehr Geld besitzen als auf dem Land, begannen die Bewohner auf eigene Faust, ihre Häuser wieder zu errichten. An die überall propagierte Vorgabe «Build back better», also besser und erdbebensicherer wieder aufzubauen, hielt sich dabei kaum jemand.

Zu allem Unglück für die Erdbebenopfer entspann sich nach der Verabschiedung der Verfassung auch noch ein politischer, teils gewalttätig ausgetragener Streit mit Indien. Die Straßen in das große Nachbarland, aus dem fast das ganze Benzin, Kochgas und Baumaterial kommen, waren 135 Tage lang dicht. Die Hilfsorganisationen schätzen, dadurch habe sich alle Arbeit um vier bis fünf Monate verzögert.

Viele Nepalesen haben das Vertrauen in die Regierung verloren. «Ich erwarte nicht, dass uns die Regierung in nächster Zukunft hilft», sagt zum Beispiel der Schulleiter Tritha Bahadur Shrestha. Selbst wenn das Geld aus dem Ausland mal fließe, wandere es eher in die Taschen der Beamten statt in die Hände der Betroffenen.

Auch die Einnahmen aus dem für Nepal wichtigen Tourismus sprudeln nicht mehr wie zuvor. Im vergangenen Jahr kamen nach offiziellen Angaben 30 Prozent weniger Besucher, in diesem Jahr 25 Prozent weniger. Im Tourismusort Pokhara etwa sieht der Kellner Santosh Okharel nun vor allem leere Tische und Stühle. «Mein Gehalt besteht normalerweise vor allem aus Trinkgeldern», sagt er. «Wenn es so weitergeht, muss ich zusammenpacken und in einen Golfstaat gehen.»

Santner vom Roten Kreuz hat die Hoffnung nicht aufgegeben. «Nepal wird letztendlich seinen Weg aus der Katastrophe finden», glaubt er. «Aber es wird länger dauern, als wir das gerne hätten, oder als unsere Spender sich das wünschen.»

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