Regierung ringt im Chaos um Handelspakt

​Drama in der Downing Street 

Foto: Pixabay/Tumisu
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LONDON: Während Großbritannien unter der Pandemie ächzt, tobt in der Londoner Regierungszentrale ein bitterer Machtkampf. Das könnte auch Folgen für die Verhandlungen mit der EU über einen Brexit-Handelspakt haben.

«Millionen Leute wachen heute Morgen auf, kratzen sich am Kopf und fragen: Was in aller Welt ist los?», empörte sich der britische Oppositionschef Keir Starmer nach einer turbulenten Nacht im politischen London am Donnerstagmorgen im Radio. «Wir sind mitten in einer Pandemie, wir sorgen uns alle um unsere Gesundheit und unsere Familien - und dieser Haufen zankt sich hinter der Tür von Downing Street 10.»

Gemeint war die jüngste Episode eines undurchsichtigen Ränkespiels im britischen Regierungszirkel um Premier Boris Johnson. Es geht im Kern um den Rücktritt von Kommunikationschef Lee Cain und die darum rankenden wilden Spekulationen. Vieles blieb unklar, aber dass hinter der schwarzen Tür mit der goldenen Nummer 10 Chaos herrscht, dementiert niemand. Und dieses Durcheinander wiederum streut Sand ins Getriebe der laufenden Verhandlungen mit der Europäischen Union über einen Brexit-Handelspakt. So sieht man das zumindest in Brüssel.

Was ist passiert? Cain galt als Johnsons langjähriger Vertrauter und oberster Spin-Doctor. Nebenbei ist Cain ein überzeugter Vorkämpfer des EU-Austritts, der die «Vote Leave»-Kampagne der Brexit-Befürworter maßgeblich geprägt hat. Noch am Mittwoch war Cain für den wichtigen Posten des Stabschefs gehandelt worden. Doch dann verkündete er am späten Mittwochabend plötzlich und ohne Begründung, dass er zum Jahresende seinen Hut nehem wird.

Bis ins Detail analysiert Londons Hauptstadtpresse nun die Gründe für Cains Abgang und die internen Streitereien: der Gegenwind gegen Cain als möglichen Stabschef, Johnsons Beförderung einer Ex-BBC-Journalistin zum TV-Gesicht seiner Regierung und nicht zuletzt die angebliche Abneigung von Johnsons Verlobter Carrie Symonds gegen Cain. Prompt gab es Spekulationen: Geht nun auch Cains engster Verbündeter und Strippenzieher Dominic Cummings? Vielleicht sogar Brexit-Unterhändler David Frost?

Frost ist der Mann, der nach monatelangen Verhandlungen mit seinem EU-Gegenspieler Michel Barnier in diesen Tagen eigentlich einen umfassenden Handelspakt mit der Europäischen Union unter Dach und Fach bringen soll. Die Zeit ist quasi abgelaufen, denn schon zu Jahresanfang müsste ein solches Abkommen in Kraft treten. Dann endet nach dem britischen EU-Austritt auch die Mitgliedschaft im Binnenmarkt und in der Zollunion.

Das Gerücht um Frosts Abtritt erwies sich erstmal als unbelegt. Aber auch in Brüssel blickt man einigermaßen ungläubig auf die Downing Street. Die britische Regierung habe ohnehin in den Verhandlungen lange nicht gewusst, was sie wolle, sagte am Donnerstag ein EU-Vertreter, der ebenfalls das Wort «Chaos» in den Mund nahm. Dann habe London wohl vergeblich auf irgendeine magische Wendung gehofft, die die EU unter Druck setzen könnte - die US-Wahl oder ein Abflauen der Corona-Pandemie. Aber die Wende sei ausgeblieben.

Und so schleppen sich die Verhandlungen mal in Brüssel, mal in London dahin. Mehrere Fristen sind bereits verstrichen. Ursprünglich sollte bis Mitte Oktober ein Vertragstext stehen, dann bis Ende Oktober. Zuletzt hieß es aus dem EUParlament, diese Woche müsse der Durchbruch gelingen, damit ein Abkommen noch vor Jahresende ratifiziert werden könne. Aber auch diese Woche wird es wohl nichts werden: Man mache nächste Woche in Brüssel weiter, sagte ein Sprecher der EU-Kommission am Donnerstag.

Inhaltlich gibt es zwar nach Angaben aus EU-Kreisen Fortschritte, doch komme man sehr langsam voran. Genannt werden immer dieselben drei Streitpunkte: Fischfang, Wettbewerbsbedingungen, Schlichtungsregeln. Und immer noch ist die Rede von ernsten Differenzen.

Ein Diplomat sagte in Brüssel sogar, man sei sich immer noch nicht sicher, ob London überhaupt ein Abkommen wolle. Andererseits hat EU-Unterhändler Barnier immer wieder betont, dass man bis zur letzten Minute alles versuchen werde. Der Franzose hat sich über die Jahre die Pose scheinbar unerschütterlicher Geduld zugelegt. Auch diese Woche winkte er hinter seiner blauen EU-Maske jeden Morgen aufs Neue in die Kameras der Londoner Fotografen - und hatte doch nichts zu verkünden.

Klar ist, dass die EU den Schwarzen Peter des Scheiterns nicht will. Und Großbritannien offenbar auch nicht. In London werten manche Cains Rücktritt nun sogar als Zeichen, dass die Chancen für einen Verhandlungserfolg wachsen: Das sei der Anfang vom Ende der mächtigen Brexiteers, die seit geraumer Zeit den Ton in der Downing Street angeben. Aber da beginnt schon wieder die Spekulation.

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