«Estonia»-Prozess: Strafe gegen Dokumentarfilmer

Collage: DER FARANG
Collage: DER FARANG

GÖTEBORG: Rund 28 Jahre nach der größten Schiffskatastrophe der europäischen Nachkriegszeit beschäftigt sich ein Gericht einmal mehr mit dem «Estonia»-Untergang und seinen Folgen. Zwei Schweden werden nun doch verurteilt. Das letzte Wort dürfte damit weiter nicht gefallen sein.

Erst Freispruch, nun eine relativ milde Strafe: In einem neu aufgerollten Prozess um Aufnahmen am Wrack der Ostsee-Fähre «Estonia» sind zwei Schweden wegen Verstoßes gegen den Grabfrieden zu Geldstrafen verurteilt worden. Anders als bei einem Freispruch vor gut anderthalb Jahren kam das Bezirksgericht von Göteborg in einem am Montag veröffentlichten Urteil zu dem Schluss, dass der Journalist Henrik Evertsson und der Wrack-Experte Linus Andersson doch nach dem schwedischen Estonia-Gesetz verurteilt werden können.

Die Strafe wurde auf jeweils 40 Tagessätze in Höhe von 470 beziehungsweise 560 schwedische Kronen festgelegt - umgerechnet belaufen sich die jeweiligen Gesamtsummen damit auf rund 1750 beziehungsweise 2100 Euro. Beide Männer planen, gegen das Urteil in Berufung zu gehen. Es gehe um wichtige journalistische Prinzipien und komplexe juristische Bewertungen, erklärte Evertsson nach Angaben der Nachrichtenagentur TT in einem schriftlichen Kommentar. «Wir werden das weiter vorantreiben», sagte Andersson dem Rundfunksender SVT. Auch Staatsanwältin Helene Gestrin überlegt demnach, das Urteil aufgrund der Strafmilderung anzufechten.

Die «Estonia» war im September 1994 mit 989 Menschen an Bord auf dem Weg von Tallinn nach Stockholm vor der finnischen Südküste gesunken. 852 Menschen starben, nur 137 überlebten. Es handelte sich um die größte Schiffskatastrophe der europäischen Nachkriegsgeschichte. Weil viele der Toten nicht geborgen werden konnten, steht das Wrack als Ruhestätte unter Schutz und darf nicht aufgesucht werden.

Für eine Dokumentation hatte ein Filmteam im September 2019 dennoch einen Tauchroboter zum Wrack heruntergelassen. Evertsson war dabei Produktionsleiter gewesen, Andersson hatte den Tauchroboter von Bord des unter deutscher Flagge fahrenden Schiffes aus gesteuert. Dabei hatten sie unter anderem ein mehrere Meter großes und bislang nicht bekanntes Loch im Schiffsrumpf entdeckt, was letztlich zu neuen Untersuchungen der Behörden geführt hatte. Die Doku war 2020 mit einem wichtigen schwedischen Journalistenpreis ausgezeichnet worden.

Dem offiziellen Untersuchungsbericht von 1997 zufolge war das abgerissene Bugvisier der «Estonia» die Ursache für den Untergang gewesen. Bis heute gibt es aber Zweifel daran. Evertsson und Andersson hatten unter anderem angeführt, dass die Tauchgänge nötig gewesen seien, um neue Informationen zu einer nicht ordnungsgemäß untersuchten Katastrophe zu erlangen. Eine Strafschuld hatten sie stets von sich gewiesen.

Das Göteborger Gericht hatte sie im Februar 2021 zunächst vom Vorwurf des Grabfriedensbruchs freigesprochen. Das Vorgehen sei zwar nach schwedischem Gesetz strafbar, eine Verurteilung aber nicht möglich, weil sie den Tauchroboter von einem unter deutscher Flagge fahrenden Schiffes aus in internationalen Gewässern ins Wasser gelassen hätten, hieß es damals. Deutschland hatte eine Grabfriedensvereinbarung anders als Schweden und weitere Ostsee-Anrainer nicht unterzeichnet. Ein Berufungsgericht sah das allerdings anders und gab den Fall Anfang 2022 deshalb an die Erstinstanz zur erneuten Prüfung zurück.

In seiner einstimmigen Neubewertung stellte das Göteborger Gericht nun fest, dass einer Anwendung der schwedischen Gesetzgebung nichts im Wege stehe. «Es gibt ein starkes öffentliches Interesse daran, den Grabfrieden rund um die M/S Estonia aufrechtzuerhalten, die die Grabstätte einer großen Anzahl von Menschen ist», erklärte der Vorsitzende Richter Göran Lundahl. Das journalistische Motiv hinter der Straftat wirke sich jedoch strafmildernd aus.

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