EU-Handelsabkommen: Interessen stoßen auf Menschenrechte

Vietnams Außenminister Pham Binh Minh spricht zu den Medien. Foto: epa/MINH HOANG
Vietnams Außenminister Pham Binh Minh spricht zu den Medien. Foto: epa/MINH HOANG

STRAßBURG/HANOI (dpa) - Die EU hat ein weitreichendes Freihandelsabkommen mit Vietnam vereinbart. Es würde europäische Exporte in das aufstrebende Entwicklungsland erleichtern. Doch Menschenrechtler mahnen.

Die Fahrt führt durch ausgedehnte Plantagen mit Kautschuk- und Cashewbäumen. Dann kommt die Gruppe an Baustellen vorbei, auf denen Gefangene unter sengender Sonne schuften. Dies ist das Gefängnis von Thu Duc etwa drei Fahrtstunden östlich von Ho-Chi-Minh-Stadt, Vietnam. In der Haftanstalt, die Generalleutnant Ho Thanh Dinh als Direktor des vietnamesischen Gefängniswesens jüngst ausgewählten Reportern vorführte, sitzen 6000 Gefangene ein - und verrichten in gestreifter Häftlingskleidung zermürbende Arbeiten.

Werden die Cashewkerne, wird das Gummi von den Plantagen in Thu Duc demnächst zu besonders günstigen Bedingungen nach Europa geliefert? Die Europäische Union hat mit Vietnam ein Freihandelsabkommen vereinbart - das Europaparlament debattierte am Dienstag in Straßburg kontrovers darüber. An diesem Mittwoch findet die Abstimmung statt.

Menschenrechtler erfüllt das mit Sorge. Die Organisation Human Rights Watch (HRW) forderte die Abgeordneten auf, ihr Votum zu verschieben, bis Vietnams Regierung in «konkrete und überprüfbare Maßstäbe beim Schutz von Arbeitnehmerrechten und Menschenrechte» einwillige. 27 weitere Organisationen sehen das genauso.

Die EU-Kommission in Brüssel, die das Abkommen mit Hanoi ausgehandelt hat, kennt diese Einwände. Sie hält ihnen entgegen, Vietnam habe in den vergangenen zweieinhalb Jahren große Fortschritte bei den Arbeitnehmerrechten gemacht. Das neue Abkommen biete eine gute Bühne für weitere Diskussionen - das glaubten auch Aktivisten in Vietnam.

Vor allem setzen die Befürworter des Freihandelsabkommens aber auf wirtschaftliche Argumente. Mit dem Abkommen sollen die Zölle auf 65 Prozent aller EU-Ausfuhren nach Vietnam umgehend entfallen - bisher erhebt das Land laut Kommission etwa auf Flugzeuge 25 Prozent Zoll. Der Rest würde mit wenigen Ausnahmen binnen zehn Jahren abgeschafft - etwa für Rindfleisch, Wein und Autoteile. Umgekehrt fallen nach dem Inkrafttreten die EU-Importzölle auf 71 Prozent aller vietnamesischen Waren weg, nach sieben Jahren wären es 99 Prozent.

Es sei «das umfassendste und ambitionierteste Abkommen dieser Art, das jemals zwischen der EU und einem Entwicklungsland geschlossen wurde», erklärte der Ausschuss für internationalen Handel des Europaparlaments. Seine Mitglieder stimmten dem Vertragswerk im Januar mit deutlicher Mehrheit zu. Die Befürworter glauben an das bekannte Prinzip «Wandel durch Handel».

Wandel wäre aus Sicht von Amnesty International (AI) in der Sozialistischen Republik Vietnam dringend nötig. In den Gefängnissen des Landes sind nach AI-Angaben mindestens 128 politische Häftlinge unter «entsetzlichen» und «schäbigen» Bedingungen untergebracht. Sie würden gefoltert, misshandelt und von ihren Mitgefangenen isoliert, hieß es in einem Bericht vom Mai 2019. Außerdem hätten sie keinen Zugang zu ärztlicher Versorgung, sauberem Wasser und frischer Luft.

Selbst im Thu-Duc-Gefängnis, das die Regierung ausländischen Reportern zu zeigen bereit war, starben im vergangenen Jahr neun Häftlinge - vier von ihnen an Aids, einer behandelbaren Krankheit. Wie viele Tote es in den vergangenen zehn Jahren gab, ist unbekannt - obwohl im Gefängnis dafür eigens ein Gremium eingerichtet wurde.

150 der 6000 Gefangenen in Thu Duc stammen aus dem Ausland. «Sie behandeln uns besser als die Vietnamesen», sagt der 52-jährige Hilton Gomez aus Malaysia. Er müsse sich die Zelle nur mit 12 weiteren Insassen teilen - ein Vietnamese stattdessen mit bis zu 40.

Die Häftlinge klagen über fehlenden Kontakt zu ihren Verwandten. Er dürfe keine Telefonate ins Ausland führen, sagt John Nguyen, dessen Familie in den USA lebt. Nur alle sechs Monate, wenn seine Verwandten nach Vietnam reisten, könne er mit ihnen sprechen. Ein Häftling aus Nigeria sagt gar, die Aufseher verweigerten ihm jeglichen Kontakt zu seiner Familie: «Wir flehen sie an.»

Wenn Häftlinge nicht regelmäßig mit Angehörigen und Anwälten reden dürften, verletze dies klar die Menschenrechte, sagt Phil Robertson, Vize-Leiter der Asien-Abteilung von HRW. «Die Menschenrechtslage in Vietnam ist besorgniserregend», erklärt auch die Europaabgeordnete Anna Cavazzini, handelspolitische Sprecherin der Grünen/EFA-Fraktion klagt: «Die vietnamesische Regierung hält ihre Versprechungen nicht ein und geht immer brutaler gegen Andersdenkende und organisierte Arbeiterinnen und Arbeiter vor.»

In der Debatte des Europaparlaments kam Kritik an dem Abkommen von den linken und rechten Fraktionen. Vietnam sei ein repressiver Staat, dessen kommunistische Regierung keine freien Gewerkschaften zulasse, sagte Danilo Lancioni von der italienischen Lega, der auch die vietnamesische Kohleverstromung hervorhob. Der Franzose Emmanuel Maurel von der Linken-Fraktion sprach von einem Klimakiller-Abkommen. Die belgische Grüne Saskia Bricmont sagte, Vietnam brauche eine Strafrechtsreform - doch die komme nicht.

Konservative, Christdemokraten und Sozialdemokraten lobten hingegen Fortschritte, die Vietnam bereits gemacht habe. Viele Handys, Tablets und Kleidungsstücke kämen schon jetzt aus dem Land. «Wir wollen, dass hier Regeln gesetzt werden», sagte der SPD-Abgeordnete Bernd Lange. EU-Handelskommissar Phil Hogan erklärte, das Abkommen verbessere Europas Position in Asien. Vietnam habe unter anderem sechs von acht Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation ILO unterzeichnet: «Diese Entwicklungen sind bemerkenswert.»

Doch was würde aus dem Freihandelsabkommen, wenn sich die Menschenrechtslage verschlechtere? Als «letzte Möglichkeit» enthalte der Vertrag eine Klausel zu Aussetzung des Abkommens, sagt ein EU-Beamter in Brüssel: «Dieser Stock ist vorhanden.»

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