Die Stiefbrüder

Die Stiefbrüder

In einem Dorf am Meer lebte einst eine Witwe mit ihrem kleinen Sohn. Sie besaß ein stattliches Vermögen und war noch jung und hübsch. Deshalb stellten sich bei ihr mancherlei Freier ein. Einer unter den Bewerbern war ein ziemlich armer Mann, doch sah ihm die Frau ins Herz und erkannte, was für ein guter Mensch er war. Deshalb nahm sie seinen Antrag an und vermählte sich mit ihm.

Die Zeit verging. Die Frau gebar ihrem neuen Mann einen Sohn. Die beiden Kinder wuchsen zusammen auf. Als sie im Jünglingsalter waren, versuchten die Verwandten des Älteren, Unfrieden zu säen und Zwist zwischen den beiden. Sie stachelten den Erstgeborenen gegen seinen jüngeren Bruder auf. Sie sagten, der Jüngere werde ihm seinen Anteil am väterlichen Erbe wegschnappen und das elterliche Vermögen zur Seite bringen.

Die Mutter indes lehrte ihren älteren Sohn, den jüngeren zu lieben, und den jüngeren, den älteren zu ehren. Sie wollte erreichen, dass sie einander zugetan waren wie Geschwister, die einen gemeinsamen Vater besaßen. In Liebe sollten die beiden einander verbunden sein.

Der jüngere folgte der Mutter Rat und wendete dem Bruder seine ganze Neigung zu. Anders der Erstgeborene. Er schenkte den Einflüsterungen der Verwandten Glauben. Missgunst griff Platz in seinem Herzen. Er war voreingenommen gegen seinen Bruder und glaubte den Verleumdern, jener werde ihm die elterliche Liebe abspenstig und das Erbe streitig machen. So entstand aus Zweifel Neid und mit der Zeit aus Neid erbitterter Hass.

Tag für Tag fuhr der Vater mit den Söhnen hinaus aufs Meer, um Fische zu fangen. Durch ihre Arbeit mit dem Vater lernten die beiden im Laufe der Zeit schwimmen und tauchen, sie beherrschten das Handwerk des Schleppnetzfischens und die Kunst des Netzknüpfens.

Als der Vater sah, wie gewandt die Söhne im Umgang mit dem Fischerboot waren, besorgte er ihnen ein eigenes Boot. Damit sollten sie fortan allein ausfahren. Jeden Abend setzten sie also Segel und fuhren hinaus auf die See. Am Morgen brachte der Wind sie wieder zurück an die Küste und zum Hafen. Dort verkauften sie ihren Fang ganz so wie andere Fischer auch.

Tage und Zeiten verflossen. Noch war nichts geschehen, aber der ältere Bruder spähte ohn’ Unterlass aus nach einer Gelegenheit, sich des Jüngeren zu entledigen. Dieser hatte davon nichts bemerkt. Vielmehr dachte er, seines Bruders Liebe sei nicht weniger stark als die seine. Er misstraute dem Älteren nicht, hegte keinen Verdacht und nahm sich deshalb auch nicht in Acht.

Die Mutter wurde nicht müde, ihre Söhne zu ermahnen. Sie sprach:

"Liebe Kinder, ihr sollt euch lieben und helfen der eine dem andren. Denn es gibt keinen Freund, der euch so eng verbunden ist, wie ihr es seid als Geschwister. Ich wünsche euch Glück bei der Ausfahrt und Glück bei der Heimkehr.”

Dann ließ sie die Söhne gehen, und sie fuhren gemeinsam zur See.

In der Folgezeit bat der ältere Sohn Vater und Mutter, für ihn um die Hand eines jungen Mädchens anzuhalten, das ihm gefiel. Die Eltern machten sich auf den Weg zum Dorfe der Jungfrau, um die entsprechenden Erkundigungen einzuziehen. Da zeigte es sich, dass die Jungfrau ihre Einwilligung verweigerte, weil sie ihr Herz schon einem andren zugewendet, und das war niemand anderes als des Bewerbers jüngerer Bruder!

Als der ältere das erfuhr, kannte sein Hass keine Grenzen mehr. Sein jüngerer Bruder erschien ihm als der Zerstörer seines Lebensglücks, als der Vernichter aller seiner Hoffnungen.

Bei ihrem Fischzug am Tage darauf wusste er es so einzurichten, dass ihr Boot sich von den anderen trennte. Bald waren sie auf dem Meere allein. Nach einer Weile bezog sich der Himmel. Dunkel wurde es. Schwarz türmten sich die Wolken auf. Die Schiffer, die es sahen, kehrten schleunigst um, den schützenden Hafen anzulaufen. Nicht so die Brüder. Ihr Boot war weit abgetrieben, und von der Umkehr der andren Boote sahen sie nichts. Sie blickten sich nicht um und gingen ihrer Arbeit nach.

Wenig später frischte der Wind auf. Das Meer überzog sich mit Wellen. Der Wind wurde zum Sturme und wühlte das Wasser auf. Mächtige Wogen schlugen gegen das Boot und warfen es aus der Bahn. Dem Unwetter hielt es nicht stand. Es kippte um. Der ältere Bruder wurde unter Wasser gedrückt und war verschwunden. Der jüngere hielt sich an der Bordwand fest und sah sich um. Seinen Bruder jedoch erblickte er nicht. Als der Wind nachließ und das Wasser ruhiger wurde, ließ er das Boot los, schwamm ein stückweit fort und rief nach seinem Bruder:

"Bruder... Bruder... Bruder... wo bist du?”

Eine Antwort bekam er nicht. Schwimmend suchte er die ganze Umgebung ab, ohne Erfolg.

Der Erstgeborene war von der Macht des Sturmes über Bord geschleudert worden und hatte sich dabei die Schulter verletzt. An einer Holzkante hatte er sie sich aufgeschlagen. Die Wunde klaffte, aber in Lebensgefahr kam er dadurch nicht. Im Gegenteil: er suchte nach einer List, wie er seinen jüngeren Bruder ums Leben bringen könnte. Er tauchte unter. Seinen Dolch zog er aus der Scheide und nahm ihn zwischen die Zähne. Unter Wasser näherte er sich seinem Bruder, denn er wollte ihm von unten die Klinge in den Leib stoßen, während jener selbstvergessen an der Oberfläche des Wassers nach ihm Ausschau hielt.

Schon war er ganz nahe herangekommen. Das Messer nahm er in die Faust und hieb damit nach seinem Bruder. Die Klinge streifte des Bruders Bein und schnitt ihm durch die Haut. Bluttropfen perlten hervor, und der Geruch des Blutes lockte Haifische an, die dort in der Nähe auf Beute lauerten. Sie hielten gerade auf ihre Opfer zu.

Der Erstgeborene in seinem Eifer hatte ganz vergessen, an die Gefahr zu denken, die ihm selbst von den Haien drohte. Dem Bruder hatte er nach dem Leben getrachtet, jetzt aber kamen die Haie heran. Während er nur an eins dachte, dem ahnungslosen Bruder den Garaus zu machen, waren die Haie da. Einer biss zu und riss ihm ein großes Stück Fleisch von der Hüfte. Das Blut färbte das Wasser rot. Vor Schmerz hielt er es unter Wasser nicht mehr aus. Er tauchte auf, und da erkannte der Jüngere, in welcher Gefahr sein Bruder schwebte. Er schwamm zu ihm und wehrte mit seinem Messer die Haie ab. Die Wunden, die er ihnen beibrachte, schmerzten die Tiere, und so ließen sie schließlich von den beiden ab und suchten das Weite.

Der Jüngere zog den Bruder schwimmend zu ihrem Boot, richtete es auf, und es gelang ihm, den Todwunden an Bord zu bringen. Das Blut pulste aus der Wunde hervor, aber es gab im Boote nichts, den Strom des Blutes zu stillen. Da riss der Jüngere sein Gewand in Streifen und verband die Verletzung. Allein, das Blut floss fort und fort und hielt nicht an. Der Bruder musste verbluten.

Bevor er starb, kamen ihm seine Sünden zu Bewusstsein. Heiße Tränen stiegen in ihm auf. Er bat den Jüngeren um Vergebung für den Hass, mit dem er dessen Liebe vergolten. Mit ersterbender Stimme sprach er:

"Ich nehme Abschied von dir, oh mein geliebter Bruder. Was ich getan, vergib es mir! Ich muss fort. Unserer Mutter bring’ meinen Abschiedsgruss...”

In des Bruders Armen hauchte er sein Leben aus. Seine Lider hatten sich geschlossen. Im Schlaf des Todes dämmerte er hinüber in eine andere Zeit.

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