IS: Wie stark ist die Terrormiliz heute?

Dieses Standbild, das von der Islamischen Staatsprovinz Zentralafrika (ISCAP) online verteilt und von der SITE Intelligence Group zur Verfügung gestellt wurde, zeigt einen ISCAP-Kämpfer. Foto: Uncredited/Site Intelligence Group/ap/dpa
Dieses Standbild, das von der Islamischen Staatsprovinz Zentralafrika (ISCAP) online verteilt und von der SITE Intelligence Group zur Verfügung gestellt wurde, zeigt einen ISCAP-Kämpfer. Foto: Uncredited/Site Intelligence Group/ap/dpa

BAMAKO/DAMASKUS/KABUL: Nach der Ausrufung ihres sogenannten Kalifats 2014 verbreitete die IS-Terrormiliz jahrelang Schrecken. Vom arabischen Raum hat sie sich nach Afrika und Asien ausgedehnt. Experten warnen aber davor, den Dschihadisten zu viel Einfluss zuzuschreiben.

Als US-Spezialkräfte das Versteck von Abu Bakr al-Bagdadi in Syrien aufspürten, dauerte es nicht lange, bis beim Islamischen Staat (IS) ein neuer Anführer nachrückte. Nach dem Tod des weltweit meistgesuchten und -gefürchteten Terroristen im Herbst 2019 wurde Abu Ibrahim al-Haschimi al-Kuraischi Chef der Terrormiliz. Ausgelobtes Kopfgeld der USA: 10 Millionen Dollar.

In seinem früheren Herrschaftsgebiet in Syrien und im Irak ist der IS geschwächt. Dafür hat er in West-, Nord- und Ostafrika sowie in Teilen Asiens neue Fronten eröffnet. Bis nach Sri Lanka und auf die Philippinen reicht der Einfluss. Dort haben Ableger Treue geschworen. Bei den Osteranschlägen auf Sri Lanka im April 2019 auf mehrere Kirchen und Luxushotels wurden mehr als 250 Menschen getötet. Der IS reklamierte auch diese Attacke für sich.

In Afrika versucht der IS heute vor allem südlich der Sahara, seine Präsenz zu stärken. In Westafrika in der Sahelzone finden Extremisten fruchtbaren Boden: In der Region herrscht eine explosive Mischung aus Armut, schwacher Regierungsführung, Bevölkerungswachstum und Folgen des Klimawandels. Die Bedrohung durch militante islamistische Gruppen wachse, warnt Daniel Eizenga vom Africa Center for Strategic Studies. «Es hat eine dramatische Eskalation der Gewalt gegeben.»

Vor allem zwei Gruppen stehen zum IS: Der Westafrika-Ableger ISWAP, der sich von Boko Haram im Nordosten Nigerias abgespalten hat, und der Islamische Staat in der Sahelzone (ISGS) an der Grenze von Mali, Niger und Burkina Faso. Sich mit dem IS - einem weltweit bekannten Namen - zu assoziieren, habe vor allem gute Propaganda beschert, sagt Eizenga. ISWAP hat mit rund 3500 Kämpfern mehr Mitglieder als jeder andere IS-Ableger in Afrika, wie das Anti-Terror-Zentrum der US-amerikanischen Militärakademie West Point 2018 schätzte.

Am Nordrand der Sahara versuchen IS-Kämpfer, das Bürgerkriegschaos in Libyen zu nutzen, oder sie verüben Anschläge in der kargen Wüste Ägyptens. Seit Jahren liefern sich ägyptische Sicherheitskräfte im Nordsinai einen Kampf mit dem IS-Ableger Wilajat Sinai. Häufig verüben Extremisten dort Selbstmordattentate oder greifen mit Waffen an. Bei einem der schwersten Anschläge des IS in den vergangenen Jahren wurden dort 2017 mehr als 300 Menschen in einer Moschee getötet.

Weiter östlich, in Afghanistan, tauchte die Terrormiliz 2015 auf. Dort und auf pakistanischem Gebiet will sie die «Provinz» IS-Chorasan gründen. Die USA und die Regierung in Kabul bekämpften den IS von Anfang an intensiv. Im Herbst 2019 verkündete Präsident Aschraf Ghani dann den militärischen Sieg. Trotzdem reklamierte die Terrormiliz danach immer wieder verheerende Anschläge für sich.

Ein Terrorangriff auf ein Krankenhaus in der Hauptstadt Kabul, bei dem Mütter mit ihren Neugeborenen ermordet wurden, sorgte im Mai für Entsetzen. Die USA machten später den IS verantwortlich. Dazu kam ein Großangriff auf ein Gefängnis in der Provinz Nangarhar, der einstigen IS-Hochburg. Heute hat der IS nach einem UN-Bericht noch etwa 2200 Kämpfer in Afghanistan. In Europa wiederum gilt als Hauptbedrohung heute die terroristische Radikalisierung im Internet.

Dennoch: Das sogenannte Kalifat, das Abu Bakr al-Bagdadi 2014 in Syrien und im Irak ausrief, existiert nicht mehr. In beiden Ländern wurde der IS deutlich geschwächt. «Ihre Fähigkeit, Geld zu bewegen, das Anwerben neuer Mitglieder - alles, was wir seit 2014 beobachteten - ist sehr, sehr, sehr zurückgegangen», sagte der US-Sondergesandte für den Kampf gegen die Dschihadisten, James Jeffrey, im Juni.

Auch Terrorismusexperte Eizenga warnt davor, dem IS heute zu viel Einfluss zuzuschreiben: «Die Organisation befindet sich im Rückgang. Es ist in ihrem Interesse, so zu tun, als habe sie Verbindungen zu all diesen Satellitengruppen weltweit.» Der IS könne nur beschränkt mit ihnen zusammenarbeiten. Eizenga zufolge gibt es kaum Beweise, dass zwischen Zentrale und Ablegern eine direkte Verbindung in Form von Geld oder Koordination existiert.

Das gilt auch für die angeblich neueste Front: Mosambik. Das südliche Afrika blieb lange vom islamistischen Terror verschont. Seit 2017 jedoch greifen Extremisten in Mosambiks armer, aber gasreicher nördlicher Provinz Cabo Delgado zunehmend Menschen an. Von mehr als 400 Angriffen habe der IS mindestens 35 in seinen Propaganda-Kanälen beansprucht, sagt Jasmine Opperman. Über diesen «Medien-Dschihad» hinaus habe sie aber keine Anweisungen oder Unterstützung des IS gesehen, sagt die Analystin beim Konflikt-Institut ACLED. Die Rolle des IS in Mosambik, meinen Experten, werde überschätzt.

Wachsam bleiben Terrorismusexperten trotzdem - auch, weil der IS im Irak und in Syrien wieder stärker Fuß fassen könnte. Nach jüngsten UN-Angaben sind dort mehr als 10.000 Kämpfer aktiv, die sich in kleinen Zellen zwischen beiden Ländern bewegen. Den US-Analysten von West Point zufolge verübte der IS in den ersten drei Monaten des laufenden Jahres allein im Irak etwa 560 Anschläge - im Vergleich zu 290 im Vorjahreszeitraum. Das «jüngste Tempo der Gewalt» sei vergleichbar mit der Lage im Jahr 2012, als die Gruppe vor ihrem «militärischen Durchbruch» im Irak und in Syrien stand.

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