Russland kämpft gegen Schnee und Eis auf Dächern

​Die Gefahr von oben 

Von einem Hausdach im Zentrum von St. Petersburg, Russland, hängen Eiszapfen. Foto: epa/Anatoly Maltsev
Von einem Hausdach im Zentrum von St. Petersburg, Russland, hängen Eiszapfen. Foto: epa/Anatoly Maltsev

MOSKAU: Jedes Jahr sterben in Russland Menschen durch Eiszapfen, die sich von Hausfassaden lösen. Oder durch Schnee, der von Dächern fällt. Und Gefahr droht nicht nur Passanten unten auf der Straße - sondern auch denen, die in luftiger Höhe aufräumen.

Die Häuser schneebedeckt, die Dächer mit Eiszapfen verziert: Ausgerechnet dann, wenn Russlands Städte aussehen wie gemalt, kann es für Fußgänger richtig gefährlich werden. Jedes Jahr sterben auf den Gehwegen Menschen, weil sich über ihren Köpfen Zapfen aus gefrorenem Wasser lösen und - mitunter meterlang und spitz wie ein Speer - in die Tiefe stürzen. Erst jüngst wurde ein Zwölfjähriger in der Nähe von Moskau von einem riesigen Eisstück getroffen. Der Junge hatte Glück im Unglück: Er überlebte und wurde mit einer Kopfverletzung ins Krankenhaus gebracht. In Kasan an der Wolga erlitt ein 17-Jähriger nach einem ähnlichen Vorfall eine Gehirnerschütterung.

Doch nicht nur Eis, auch Schnee kann zur Gefahr von oben werden, erst recht nach den zuletzt massiven Schneefällen in Teilen des Landes. Rutschen Schneemassen nach unten, können sie Menschen lebendig begraben. Werden sie zu schwer, können sie Hausdächer zum Einsturz bringen. Um das zu verhindern, verpflichtet das russische Gesetz Hauseigentümer, Schnee nicht nur auf den Straßen wegzuräumen, sondern auch auf den Dächern - Eiszapfen inklusive. Und so sieht man nach jedem Schneefall Menschen in dicker orangener Arbeitskleidung auf Dächern um die Wette schaufeln.

Doch nicht überall werden die Vorschriften konsequent umgesetzt - oder zumindest nicht rechtzeitig: Immer wieder kommt es zu tödlichen Unfällen oder Menschen landen im Krankenhaus. Im Süden Sibiriens etwa wurden vor wenigen Tagen acht Menschen von Schneemassen verschüttet, die sich vom Dach eines Getreidespeichers lösten. Vier von ihnen starben.

Strenge Regeln gelten etwa in der Hauptstadt Moskau: Hier schreibt die Verwaltung tagsüber unverzügliches Schneeschippen auf Dächern vor, wenn sich dort mehr als fünf Zentimeter Schnee angesammelt haben. Erst 2018 wurden die Strafen für Hauseigentümer erhöht, die es mit dem unter Umständen lebensrettenden Winterdienst nicht so genau nehmen. Vor zwei Jahren wurden in Europas größter Metropole Bußgelder von insgesamt umgerechnet mehr als 380.000 Euro verhängt.

Wenn die Schneedecke auf einem Dach zu sehr nach oben oder ein Eiszapfen bedrohlich weit nach unten wächst, kann die Stadt außerdem auf eigene Faust Dächer reinigen lassen - und dies dem Eigentümer in Rechnung stellen. Das übernehmen in der Regel private Spezialfirmen, die den Kampf gegen die Witterung längst als lukratives Geschäftsmodell entdeckt haben.

Russlandweit bieten zahlreiche Unternehmen den Service in luftiger Höhe an. Einige werben auch damit, dass sie selbstständig regelmäßig aufs Dach klettern und die Schneehöhe kontrollieren, ohne vorher mit dem Hausherrn auch nur telefoniert zu haben.

«Die Nachfrage ist hoch, aber saisonabhängig», sagt Industriekletterer Dschabrail Kulbuldin dem Portal «aif.ru». «Es kommt oft vor, dass die Bewohner selbst zur Schaufel greifen und aufs Dach klettern und dann herunterfallen», erzählt der Experte, der im Winter Schnee schaufelt und im Sommer Fassaden reinigt. «Man braucht nicht nur Seile und Karabiner als Sicherung, sondern auch das Wissen, wie man geeignete Stellen findet und wie man sich befestigt.»

Doch ein solches Equipment ist nicht nur bei Privat-Schauflern eher eine Seltenheit. Auch die oft aus Zentralasien stammenden Gastarbeiter bewegen sich oft ungesichert auf Moskaus Dächern. Ein falscher Schritt - etwa auf einem sechsstöckigen Mehrfamilienhaus im Zentrum der Hauptstadt - und der Arbeitseinsatz könnte tödlich enden. Nur ein Gitter an der Dachrinne bietet Schutz, falls jemand ins Rutschen kommt.

Nach einem Rekordschneefall steht der Winterdienst in der Hauptstadt derzeit übrigens vor einer besonders großen Herausforderung. Mit fast 60 Zentimetern war die Schneedecke vor rund einer Woche so hoch wie seit 65 Jahren nicht mehr, die Stadt forderte vorübergehend Tausende zusätzliche Helfer zum Wegräumen an. Doch auch hier kam für manche jede Hilfe zu spät: In und um Moskau starben zwei Menschen durch einstürzende Gebäudedächer. Und ein Ende des russischen Winters ist noch lange nicht in Sicht.

Überzeugen Sie sich von unserem Online-Abo:
Die Druckausgabe als voll farbiges PDF-Magazin weltweit herunterladen, alle Artikel vollständig lesen, im Archiv stöbern und tagesaktuelle Nachrichten per E-Mail erhalten.
Pflichtfelder

Es sind keine Kommentare zum Artikel vorhanden, bitte schreiben Sie doch den ersten Kommentar.