Deutschland, Weihnachten 2016

Foto: epa/Arne Dedert
Foto: epa/Arne Dedert

BERLIN (dpa) - Es wird ein anderes Weihnachten dieses Jahr. Der Berliner Anschlag wirkt nach. Der Schock sitzt tief. Aber Panik kommt nicht auf. Die Deutschen haben sich verändert.

Weihnachten fühlt sich anders an dieses Jahr. Kann man mit den Kindern noch in die Kirche gehen? Die wenigsten, die dies ursprünglich vorhatten, werden wohl darauf verzichten. Aber vielleicht gehen sie doch lieber nicht in die Hauptkirche, lieber nicht in den Dom, sondern in das unscheinbare Gotteshaus nebenan. Und damit haben die Terroristen den Alltag schon verändert.

Die vergangene Woche hat viele Bilder gebracht, die sich nachhaltig eingebrannt haben. Einige davon sind nur ganz kleine Ausschnitte. Da ist die Tannengirlande, die in der zerborstenen Windschutzscheibe des schwarzen Sattelschleppers auf dem Berliner Breitscheidplatz hängt. Da sind die Maschinenpistolen, die Polizisten vor der geschlossenen Würstchenbude des Weihnachtsmarkts in der Hand halten. Und da sind die geschlossenen Augen von Angela Merkel.

Dieses Bild der in Trauer versunkenen Kanzlerin ist vielleicht dasjenige, das in die Geschichtsbücher eingehen wird. Nur was daneben für ein Text stehen wird, das kann man jetzt noch nicht genau wissen. Aber es dürfte sich im nächsten Jahr entscheiden.

Der Anschlag von Berlin hat Deutschland erschüttert und verändert. Zwar hatte es im Sommer bereits die Axt-Attacke von Würzburg und den ersten IS-Selbstmordanschlag auf deutschem Boden in Ansbach gegeben. Die Opfer kamen dabei aber mit dem Leben davon. Mit dem Anschlag von Berlin endet die Zeit, in der Deutschland von großen Terrorattacken verschont blieb. Der Breitscheidplatz wird künftig wohl in einem Atemzug genannt werden mit der Promenade des Anglais in Nizza, dem Brüsseler Flughafen, der Konzerthalle Bataclan in Paris, dem Bahnhof Atocha in Madrid und der Londoner U-Bahn.

Zwölf Tote und 50 Verletzte sind die Bilanz von Berlin. Das Anschlagsziel war sorgfältig gewählt. In Nizza schlug der Täter während eines Fests zum französischen Nationalfeiertag zu. In Deutschland gibt es keinen Tag mit vergleichbarer Bedeutung. Aber ein Weihnachtsmarkt ist ein Ziel mit ähnlich hohem Symbolwert. Praktisch jeder Mensch, der in Deutschland aufgewachsen ist, verbindet damit Bilder, Lieder und Gerüche. «Wo man ging, atmete man das Aroma des Festes ein», schreibt Thomas Mann in den «Buddenbrooks», Erscheinungsjahr 1901.

Für ein solches Erlebnis waren auch diejenigen gekommen, die am Montagabend von dem Lastwagen erfasst wurden. Der spanische Erasmus-Student Iñaki Ellakuria war dabei, er überlebte mit mehreren Knochenbrüchen und pries anschließend die Freundlichkeit der Fremden, die sich sofort um die Verletzten gekümmert hätten. Andere hatten weniger Glück. Am Donnerstag bestätigte der italienische Ministerpräsident Paolo Gentiloni auf Twitter, dass unter den Toten auch eine 31 Jahre alte Frau aus seinem Land sei. Sie hatte seit mehreren Jahren in Berlin gelebt.

Vorgewarnt war man. Politiker, Polizei und «Terror-Experten» hatten es oft genug gesagt: Es sei nicht eine Frage des Ob, sondern des Wann. Aber tief im Inneren haben viele wohl doch nicht recht daran geglaubt - glauben wollen. In Deutschland sind die Planungen von Terroristen immer wieder erfolgreich durchkreuzt worden, zuletzt möglicherweise noch die Vorbereitungen für einen Anschlag auf das Einkaufszentrum Centro in Oberhausen. Deutschland hat sich auch immer nur zurückhaltend an Militäraktionen beteiligt. Es hat keine Kolonialvergangenheit in Nordafrika. Und schließlich: Musste die großzügige Aufnahme so vieler Hunderttausend Flüchtlinge nicht gleichsam einen Schutzmantel über das Land breiten? Wer so viel Gutes tut, der darf dafür nicht bestraft werden - so das Empfinden.

Das war natürlich naiv, wie die Experten nicht müde werden zu betonen. Als europäische Führungsmacht befindet sich Deutschland im Fadenkreuz der Terroristen. Und was die Flüchtlinge aus Syrien, dem Irak und Afghanistan betrifft: Da sind die allermeisten ohne Zweifel Schutzsuchende, Opfer von Krieg und Gewalt, viele sogar Kinder. Aber es ist kaum anders vorstellbar bei einer so großen Zahl, als dass darunter auch Fanatiker sind. Und Verzweifelte, die nun in Baracken und Turnhallen ausharren und sich über das Internet radikalisieren lassen. Wobei der Verdächtige Anis Amri kein syrischer Kriegsflüchtling ist, sondern Tunesier. Nach Angaben seines Bruders verließ er seine Heimat, weil er einen Lastwagen gestohlen hatte und von der Polizei gesucht wurde.

Manche finden gleichwohl, dass man sicherheitshalber überhaupt niemanden nach Deutschland hätte hereinlassen sollen. Schon kurz nach dem Anschlag, als noch rein gar nichts über die Hintergründe feststand, twitterte der nordrhein-westfälische AfD-Chef Marcus Pretzell: «Es sind Merkels Tote!» Rechtspopulist Geert Wilders, der die Umfragen für die demnächst bevorstehende niederländische Parlamentswahl anführt, verbreitete ein Foto, auf dem Merkel mit Blut beschmierten Händen zu sehen ist. In England prophezeite Nigel Farage, Ex-Chef der europafeindlichen UK Independence Party: «Geschehnisse wie dieses werden das Erbe von Merkel sein.»

Das könnte ein Vorgeschmack auf den Bundestagswahlkampf sein. Es wäre dann eine Schlammschlacht, wie die Bundesrepublik sie noch nicht erlebt hat. Die Worte von Bundespräsident Joachim Gauck nach dem Anschlag von Berlin hatten deshalb etwas Beschwörendes, fast so als spräche er ein Gebet: «Der Hass der Täter wird uns nicht zu Hass verführen. Er wird unser Miteinander nicht spalten.»

Angela Merkel hat im zuende gehenden Jahr praktisch all ihre Verbündeten auf der internationalen Bühne verloren, oft durch Zutun der Rechtspopulisten. Der britische Premierminister David Cameron, der italienische Ministerpräsident Matteo Renzi, US-Präsident Barack Obama, Frankreichs Präsident Francois Hollande - sie alle sind bereits von der Bildfläche verschwunden oder werden es in Kürze sein.

Es ist einsam geworden um Angela Merkel. Im kommenden Jahr geht es um ihr eigenes politisches Überleben. Man könne nur hoffen, dass sie es schaffe, schreibt der englische Historiker Timothy Garton Ash, denn Deutschland sei nun das liberale Zentrum Europas, wenn nicht gar des Westens: «Und das Zentrum dieses Zentrums ist Angela Merkel.»

Politikwissenschaftler und Medienkommentatoren sind sich weitgehend einig darin, dass es für Merkel jetzt von größter Wichtigkeit ist, den Bürgern ein Gefühl der Sicherheit zurückzugeben. Sie muss den Eindruck eines staatlichen Kontrollverlustes korrigieren. Die statistische Gewissheit, dass man in Deutschland eher vom Blitz erschlagen als von Terroristen getötet wird, hilft dabei wenig.

In der zurückliegenden Woche hat der deutsche Staat als Terroristenjäger nicht die beste Figur abgegeben. Zunächst verdächtigte die Berliner Polizei einen jungen Pakistaner, der sich dann als unschuldig herausstellte. Am Tag nach dem Anschlag fand sich in der Fahrerkabine des Lastwagens plötzlich eine Geldbörse mit Papieren des Tunesiers Anis Amri. Es mag Gründe dafür geben, die Kabine in einem solchen Fall nicht sofort zu durchsuchen - man wollte keine Spuren verwischen, Hunde sollten noch den Geruch des Verdächtigen aufnehmen. Und doch strapaziert es die Fantasie des Laien, darin keine Panne sehen zu wollen.

Anis Amri ist ein sogenannter Gefährder: ein radikaler Islamist, dem schwere Straftaten zugetraut werden. In Tunesien und Italien soll er schon zu langen Haftstrafen verurteilt worden sein. In Deutschland wurde er von März bis September überwacht. Doch die Ermittler fanden keine ausreichenden Beweise, um gegen ihn vorzugehen. Eine Abschiebung nach Tunesien scheiterte, weil er keinen Pass hatte. Seit Dezember galt er als untergetaucht. Jetzt wird europaweit nach ihm gefahndet.

Wie müssen diese Fakten auf die Angehörigen der in Berlin Ermordeten wirken? Es muss für sie furchtbar sein zu wissen, dass der Staat dem potenziellen Terroristen so dicht auf den Fersen war und letztlich doch nichts tat oder nichts tun konnte. All dies dürfte dazu führen, dass das Thema innere Sicherheit die politische Debatte in Deutschland im kommenden Jahr beherrschen wird. Es wird womöglich das Thema, das die Bundestagswahl entscheidet.

Die Debatte dreht sich um das Spannungsverhältnis zwischen Sicherheit und Freiheit. Vieles, was im Ausland möglich ist, geht in Deutschland so nicht. Doch allmählich wird nachgerüstet: Am Mittwoch billigte die Bundesregierung zum Beispiel mehrere Gesetzentwürfe zur Ausweitung der Videoüberwachung. Bei Kameras im öffentlichen Raum denkt man in Deutschland immer schnell an einen Überwachungsstaat. Doch der Fall des Berliner U-Bahn-Treters, der eine Frau eine Treppe hinabstieß, dabei aber gefilmt und deshalb gefasst wurde, zeigt deutlich, wie Videokameras im Alltag Schutz bieten können.

Auch die Arbeit der Geheimdienste wird von vielen Deutschen mit Misstrauen beäugt. «Der Schatten der Geschichte liegt über allem, was ihre Nachrichtendienste zu tun versuchen», sagt der Direktor des britischen Thinktank Rusi, Raffaello Pantucci, in der «Financial Times». Er meint den Schatten von Gestapo und Stasi. In einem Land, das so schreckliche Erfahrungen mit Totalitarismus gemacht hat, ist Privatsphäre ein denkbar kostbares Gut.

Doch in den vergangenen Jahren haben die deutschen Sicherheitsbehörden mehrmals entscheidende Hinweise von befreundeten Geheimdiensten wie dem umstrittenen US-Dienst NSA bekommen. Hinweise, die vielleicht mit Methoden gewonnen wurden, die in Deutschland selbst nicht legal wären. Möglich ist, dass nun unter dem Eindruck des Anschlags ein Umdenken einsetzt. Wer kann schon voraussehen, was sich in nächster Zeit alles verändern wird? Wenn man in Brüssel aus dem Bahnhof Süd tritt, steht dort ein Panzerwagen. Auch die Belgier hätten sich das früher nicht vorstellen können.

Der Bürger kann vom Staat erwarten, alles Vertretbare für seine Sicherheit zu tun. Auf diesen Anspruch pochen jetzt nicht nur CSU-Politiker. Die Ermordung von Unschuldigen scheint nach deutlichen Reaktionen zu verlangen. Doch eben dies birgt eine große Gefahr. Der französische Journalist Nicolas Hénin, der zehn Monate ein Gefangener der Terrormiliz IS war, sagte nach seiner Freilassung, solche Reaktionen seien genau das, was der IS provozieren wolle: «Jedes Anzeichen von Überreaktion, Spaltung, Angst, Rassismus oder Fremdenfeindlichkeit wird sie nur ermutigen», ist seine Überzeugung, nachdem er die Terroristen monatelang aus nächster Nähe erlebt hat. Was dem IS viel mehr Sorgen bereite, seien Appelle zum Frieden.

Der Begriff «Krieg gegen den Terror» impliziert, dass man irgendwann den Sieg erringen könnte. Sandra Maischberger hat diese Woche in ihrer Sendung den RAF-Experten Stefan Aust gefragt, wie lange das wohl dauern könnte. Seine Antwort: «Ich fürchte, das wird sehr, sehr lange dauern.» Die RAF habe es 28 Jahre gegeben. Und sie nimmt sich sehr klein aus gegenüber dem islamistischen Terror. Der Historiker Constantin Goschler sagt, wenn er für die derzeitige Epoche eine Kapitelüberschrift in einem Geschichtsbuch finden müsste, dann wäre das: «Die hilflose Zeit».

Diese Erkenntnis ist frustrierend. Doch die vergangenen Wochen und Monate haben auch eine Haltung erkennbar werden lassen, die Mut macht. Früher ist im Ausland viel von «German Angst» die Rede gewesen: Man sagte den Deutschen - sicher nicht zu Unrecht - ein übertriebenes Sicherheitsbedürfnis nach. Jedes Problem werde bei ihnen gleich zur Katastrophe aufgeblasen, jedes Risiko sei zuviel. Beim ersten richtigen Terroranschlag werde Panik ausbrechen.

Doch davon ist nichts zu spüren. Ein mulmiges Gefühl, ja, das mögen viele haben, wenn sie sich nach den Feiertagen wieder durch eine Menschenmenge in der morgendlichen Rushhour schieben. Aber Angst? «Wir wollen nicht damit leben, dass uns die Angst vor dem Bösen lähmt», hat Angela Merkel gesagt.

Schon nach den Anschlägen von Würzburg und Ansbach und dem Amoklauf von München im vergangenen Sommer hatte der britische «Economist» den Deutschen «heroische Gelassenheit» bescheinigt. Jetzt urteilt der «Guardian»: «Aus dem blutigen Massaker von Hass und Gewalt in Berlin am Montag vor Weihnachten erwächst das beneidenswerte Bild eines Landes, das treu zu den Werten des liberalen Europas steht.» Die niederländische Zeitung «NRC Handelsblad» findet es «bemerkenswert, wie beherrscht viele der Reaktionen in Deutschland ausfallen».

So werden die Kirchen an diesem Heiligen Abend denn auch sicher nicht leer bleiben. Eher im Gegenteil: In Krisenzeiten haben die Kirchen mehr Zulauf. Man muss nicht gläubig sein, um dort eine Kerze anzuzünden oder gemeinsam mit anderen die schönen alten Geschichten und Lieder zu hören. Die «Berliner Morgenpost» setzte bereits am Mittwoch ein Zitat aus dem Weihnachtsevangelium nach Lukas auf ihre Titelseite. Den Zuspruch des Engels an die Adresse der erschrockenen Hirten wird man vermutlich auch nächstes Jahr brauchen. Seine Worte waren: «Fürchtet euch nicht!»

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