Der Milliarden-Plan

BRÜSSEL: Überlebt die EU die Corona-Krise? Zeitweise gab es daran ernsthafte Zweifel. Nun stellt die EU-Kommission den lange erwarteten Vorschlag für den wirtschaftlichen Wiederaufbau vor - doch Streit ist schon wieder programmiert.

Vier Wochen lang hat Ursula von der Leyen hinter den Kulissen gefeilt und mit Europas Hauptstädten gefeilscht. Am Mittwoch nun präsentierte die EU-Kommissionschefin ihren Plan für die wirtschaftliche Erholung Europas nach der Corona-Krise. Es ist ein finanziell, rechtlich und politisch heikles Unterfangen. Denn längst geht es um mehr als um eine Konjunkturhilfe für Krisenregionen. Es geht für die Europäische Union ums Ganze - um den Zusammenhalt Europas, wie es auch Bundeskanzlerin Angela Merkel sagt.

Was sieht der Plan vor?

Von der Leyen schlägt vor, dass die EU-Kommission an den Finanzmärkten Kredite in Höhe von 750 Milliarden Euro aufnimmt. Der Großteil dieses Geldes soll dann über ein Programm namens «Next Generation EU» in die Mitgliedstaaten fließen und helfen, die wegen der Covid-19-Pandemie eingebrochene Konjunktur anzukurbeln. 500 Milliarden Euro könnten als nicht zurückzahlbare Zuschüsse überwiesen werden, weitere 250 Milliarden Euro als Kredite.

Wie soll das Geld verteilt werden?

Die EU-Kommission hat von den 750 Milliarden Euro insgesamt 655 Milliarden Euro nach bestimmten Kriterien für die einzelnen EU-Staaten reserviert. Der Großteil der Mittel soll demnach an die Länder vergeben werden, die wirtschaftlich am stärksten von der Corana-Krise getroffen werden. So sind allein 173 Milliarden Euro für Italien und 140 Milliarden Euro für Spanien vorgesehen. Die beiden Länder würden damit knapp die Hälfte der vorab zugewiesenen Mittel bekommen. Deutschland käme mit 28,8 Milliarden Euro nur auf einen Anteil von rund vier Prozent, Frankreich mit knapp 39 Milliarden Euro auf knapp sechs Prozent.

Sollen die Länder mit dem Geld machen können, was sie wollen?

Nein. Die EU-Kommission will, dass vor allem in Zukunftsbereiche wie Klimaschutz, Digitalisierung, Forschung oder Gesundheit investiert wird. Das Geld soll deswegen über EU-Programme vergeben werden. So wird es möglich, Bedingungen zu formulieren.

Wie will die EU-Kommission die Schulden zurückzahlen?

Über den EU-Haushalt, der sich wiederum vor allem aus Beiträgen der Mitgliedstaaten speist. Deutschland könnte damit mehr als ein Viertel der Last tragen. Die Schuldentilgung soll dem Konzept zufolge 2028 beginnen und spätestens 2058 abgeschlossen sein.

Um die Rückzahlung zu vereinfachen und zu verhindern, dass ab 2028 Programme stark gekürzt werden müssen, schlägt die Kommission die Einführung neuer Abgaben und Steuern vor. Konkret im Gespräch sind eine neue Steuer für Digitalkonzerne, ein Abgabe auf nicht recycelbares Plastik und eine sogenannte CO2-Grenzsteuer. Letztere könnte als Ausgleichsmechanismus gegen den Import billiger, klimaschädlicher Produkte aus dem Ausland fungieren. Außerdem könnte die EU neue Einnahmen aus dem Emissionshandel bekommen, wenn dieser ausgeweitet werden sollte.

Wie unterscheidet sich das Kommissionskonzept vom deutsch-französischen Wiederaufbauplan und vom Plan der «sparsamen Vier?»

Von der Leyens Plan orientiert sich klar am Konzept von Bundeskanzlerin Merkel und Frankreichs Präsident Emmanuel Macron. Diese hatten vorgeschlagen, der EU-Kommission die Aufnahme von bis zu 500 Milliarden Euro Schulden zu ermöglichen und das Geld ausschließlich als Zuschüsse an Krisenregionen und -branchen zu vergeben. Vier Länder - Österreich, die Niederlande, Dänemark und Schweden - erhoben allerdings Einspruch: Sie wollen das als Kredit aufgenommene Geld auch nur als Kredite verteilen. Das heißt, die Empfänger müssten es zurückzahlen. Der Merkel-Macron-Plan sieht dagegen wie von der Leyen gemeinsame Tilgung vor.

Ist der Kommissionsplan der Weg in eine «Schuldenunion»?

«Schuldenunion» ist einer der Begriffe, die jeder anders versteht. Klar ist: Es wäre ein Präzedenzfall, wenn die EU im großen Stil Geld am Kapitalmarkt aufnehmen würde und dieses in Form von nicht zurückzahlbaren Zuschüssen an Mitgliedstaaten weiterleiten würde. Ein Unterschied zu den früher diskutierten Corona- oder Eurobonds bleibt aber: Die Haftung der einzelnen EU-Staaten ist nicht unbegrenzt, sondern beschränkt auf ihren Anteil am EU-Haushalt.

Gilt für den EU-Haushalt nicht eigentlich ein Verschuldungsverbot?

Nach bisheriger Rechtsinterpretation ist dies der Fall. Artikel 310 des EU-Vertrags besagt in Absatz 1 ganz klar: «Der Haushaltsplan ist in Einnahmen und Ausgaben auszugleichen.» Dem gegenüber stehen allerdings Artikel 352, Artikel 311 und Artikel 122. In Artikel 352 heißt es zum Beispiel: «Erscheint ein Tätigwerden der Union (...) erforderlich, um eines der Ziele der Verträge zu verwirklichen, und sind in den Verträgen die hierfür erforderlichen Befugnisse nicht vorgesehen, so erlässt der Rat einstimmig auf Vorschlag der Kommission und nach Zustimmung des Europäischen Parlaments die geeigneten Vorschriften.»

Der Fall dürfte deswegen vor Gericht landen. Wenn es schlecht läuft, könnte der Europäische Gerichtshof nach einer Klage entscheiden, dass der EU-Vertrag geändert werden muss.

Warum trägt Merkel den Plan für gemeinsame Schulden mit, wo sie sich bisher doch immer dagegen gestemmt hat?

Als ein Grund für den Kurswechsel gilt die Sorge, dass einzelne EU-Länder unter einer weiter steigenden Schuldenlast wirtschaftlich zusammenbrechen könnten - etwa das bereits stark verschuldete und besonders stark von der Corona-Krise getroffene Italien. Zudem wird in Berlin betont, dass Solidarität auch im deutschen Eigeninteresse ist.

Wie geht es nach diesem Mittwoch weiter?

EU-Ratspräsident Charles Michel muss nun ausloten, ob der Kommissionsvorschlag unter den Mitgliedstaaten konsensfähig ist. Ob es bereits beim EU-Gipfel am 19. Juni eine Einigung gibt, erscheint allerdings höchst fraglich. Von Seiten der Niederlande hieß es am Mittwoch: «Die Positionen liegen weit auseinander.» Es sei schwer vorstellbar, dass der Vorschlag am Ende der Verhandlungen so angenommen werde. Von der Leyen hielt dagegen: «Denjenigen, die heute die mutige Investition scheuen, sage ich, dass uns morgen die Kosten des Nichthandelns in dieser Krise viel teurer zu stehen kommen.»

Besonders schwierig dürften die Verhandlungen werden, weil sich die EU-Staaten noch nicht einmal einig sind, wie der normale EU-Haushalt ab dem kommenden Jahr aussehen soll. Die Kommission legte auch zu diesem Thema am Mittwoch einen neuen Vorschlag vor. Er sieht für die Jahre 2021 bis Ende 2027 einen Finanzrahmen mit einem Volumen von 1,1 Billionen Euro vor.

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