Der Fährmann und der Student

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übersetzt von Dr. Christian Velder

Viele Jahre ist es her. Ein Student hatte gerade sein Studium abgeschlossen und die Prüfung bestanden. Sein Diplom hatte er in der Hand, und er war mit sich rundum zufrieden. Er dachte an nichts andres als daran, was für ein gelehrter Mann er doch sei, was für eine gebildete Persönlichkeit, auserkoren, einmal zu den berühmtesten Menschen im Lande zu gehören.

Während er solchen Gedanken nachhing, war er zum Ufer eines Flusses gekommen. Hier musste er ein Fährboot nehmen, um ans andre Ufer zu gelangen, wo sein Dorf lag. Er stieg ein und sagte dem alten Mann, dem das Boot gehörte, er möge ihn übersetzen. Als der Fährmann das Boot von der Anlegestelle abstieß, stellte der junge Mann dem Alten ein paar Fragen. Er sagte:

"Oheim, Oheim, hast du mal etwas von Trigonometrie gehört?”

Der Fährmann antwortete: "Nein.”

Die nächste Frage lautete:

"Und Gesellschaftswissenschaften?”

"Nein.”

"Sprachkunde vielleicht?”

"Nein.”

"Wenn dem so ist, Oheim, hast du aber bestimmt etwas mitbekommen von Mechanik!”

"Nein.”

"Aber von Rechtslehre unbedingt!”

"Nein, ich nicht. Ich habe überhaupt nichts gelernt, von Kindheit an bis ins Alter, nichts. Ich verstehe mich auf Wasser und Wolken und kenne mich aus mit Anlegern und Booten.”

Der junge Mann lachte:

"Oeh, so ist es also! Nichts hast du gelernt! Wie soll da der Staat und das Land gedeihen, wenn seine Bürger nichts gelernt haben! Doch, Oheim, du musst ein Philosoph sein, das ist gewiss!”

Der Alte schüttelte den Kopf: "Nein.”

Inzwischen war das Boot in die Fahrrinne des Flusses geglitten. Der Strom riss es mit sich fort. Ringsherum gab es nur Wasser, und das jenseitige Ufer war noch weit entfernt. Unbeirrt setzte der Student die Befragung fort:

"In der Geographie wirst du dich schon auskennen und in der Wasserwirtschaft sowieso!”

Der Fährmann hatte das Steuer fest in der Hand. Er schüttelte den Kopf und wiederholte:

"Ich habe dir doch schon gesagt, ich habe nichts, gar nichts gelernt. Außer meinem Namen habe ich von andren nichts gehört, von Kindesbeinen an bis heute im Alter höre ich die Leute bloß nach mir rufen. Ich sehe immer nur das Wasser und den Himmel, und ich kenne mich nur aus mit Anlegern und Booten.”

Der junge Mann lächelte. Er zuckte die Schultern, als er sprach:

"Du musst wissen, Oheim, heute habe ich mein Abschlussdiplom erhalten. Der König selbst hat es mir überreicht, aus seiner eigenen Hand habe ich es empfangen.”

Mit diesen Worten entfaltete er ein umfangreiches Papier, zeigte es dem Fährmann und fuhr fort:

"Wer ein solches Diplom besitzt, zählt zu den bedeutendsten Persönlichkeiten. Ich habe alles gelernt, was es zu lernen gibt. Stolz bin ich darauf, stolz auf meine Gelehrsamkeit.”

Der alte Mann musste die Prahlerei des Studenten über sich ergehen lassen. Abstoßend fand er das Prunken und Prangen mit angelerntem Wissen. Er wollte den jungen Gelehrten auf die Probe stellen, den Alleswisser, und mit ihm in Wettstreit treten, er, der nur etwas verstand von Wasser und Himmel, von Anlegestellen und Fährbooten. Er wollte es wissen! Mit einer schnellen Bewegung brachte er das Boot zum Kippen. Der junge Gelehrte hatte nicht aufgepasst. Nun war er ins Wasser gefallen. Weil er nur schlecht schwimmen konnte, schluckte er eine Menge Wasser. Er ging unter und kam wieder hoch, wurde überspült und tauchte auf, er schlug um sich, sein Mund schrie um Hilfe.

Der alte Mann hatte ihn im Auge behalten. Er tat ihm leid. Er schwamm zu ihm hin und schleppte ihn schwimmend durchs Wasser zurück zum treibenden Boot. Er schob und schubste ihn über die Bordwand, und der junge Mann war gerettet. Dann ruderte er ihn ungesäumt ans Ufer und ließ ihn aussteigen. Bevor der Student gegangen war, sagte er zu ihm:

"Geh nur, mein Junge! Ich bin zwar schon alt und habe keine Ahnung von dem, was man in Schulen lernt. Von Kindheit an war mein täglicher Umgang nur das Wasser und der Himmel, die Anlegestelle und das Fährboot. Darum konnte ich dir helfen, du Klugschnabel, als du ins Wasser gefallen bist und fast ertrunken wärest. Auf Wiedersehen!”

Mit diesen Worten stieß er ab. Er lenkte das Boot zurück in die Strömung. Der Bug durchschnitt die Wogen, die der aufkommende Sturm vor sich hertrieb. Im Nu hatte er das jenseitige Ufer erreicht, wo schon eine Menge Leute warteten, dass er sie sicher hinüberbrachte. Während er ruderte, dachte er bei sich, dies ist ein Beruf, bei dem es nicht auf Gelehrsamkeit ankommt, sondern nur auf den gesunden Verstand.

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