Der Blindgänger

Jetzt weiß ich auch in der Praxis, was eine Streifkollision ist. Bisher war dies für mich graue Theorie aus dem Versicherungskauderwelsch. Ich war mit dem Velo unterwegs und hielt mich diszipliniert an die mir selbst auferlegte Fahrweise: Immer brav am Straßenrand bleiben, da kannst du nicht über-, sondern nur angefahren werden. Den freien Fall in eine Garküche überlebt man eher, als wenn man direkt unter die Räder gerät. Als mich heute ein Pick-up derart streifte, dass sogar der Rückspiegel eins abbekam und ich bedrohlich ins Schleudern geriet, wurde ich wütend. Ich nahm die Verfolgung des Wagens auf, weil ich wusste, dass er an der nächsten Kreuzung stoppen musste.

Auf der Ladefläche des Wagens saßen eng zusammengekauert mindestens ein halbes Dutzend Kinder, die lachten, als ich an die Fahrerkabine klopfte. Sie dachten wohl, dass der Farang auch noch mitgenommen werden wolle.

Wie in einem Chaplin-Film

Auch der Fahrer grinste mich nur freudestrahlend an, als ich ihm sanft gestikulierend klar machen wollte, dass er mehr Abstand wahren sollte. Es brachte nichts: Die Kinder lachten noch breiter, die Ampel sprang auf Grün, so dass ich mit einem ironisch gemeinten „Kop khun krap“ aufgab. Der Fahrer dankte herzhaft zurück und machte fortdauernd den Wei. Es war Slapstick in Reinkultur wie in einem Chaplin-Film. Ich musste selber lachen. Dann kam mir aber die Story mit den 13 Jugendlichen in den Sinn, die ums Leben kamen, weil sie alle zusammen auf einem Pick-up saßen, der von der Straße abgekommen war. Da hört der Spaß dann endgültig auf.

Thailands Straßen sind ein asphaltierter Friedhof, das ist leider eine Tatsache. Mehr als vierzig Menschen sollen täglich dem Verkehr zum Opfer fallen. Das ist bekannt und überall nachzulesen. Soweit, so schlecht. Was aber passiert mit all jenen, die verletzt wurden und behindert zurückbleiben? Laut Statistik sollen jährlich sechs- bis achtausend - meist jugendliche - Unfallopfer mit schweren Behinderungen weiterleben müssen. Es ist deshalb erstaunlich, wie wenig versehrte Menschen im öffentlichen Raum zu sehen sind. Keine Rollstühle, keine Rollatoren, keine Krücken. Invalide mit Prothesen? Selten.

Es kann natürlich auch damit zu tun haben, dass die Trottoirs und Gehwege generell in einem schlechten Zustand sind und niemand zum Lustwandeln einladen, der sonst schon schlecht zu Fuß ist. Sie sind oft voller Löcher und Unebenheiten. Rostige Gitter der Abwasserkanäle mit messerscharfen Kanten warten auf den unbedachten Passanten, um ihm ein bleibendes Souvenir an die Walking Streets zu verpassen. Es gibt auch ganze Wegstrecken, die gar nicht für Fußgänger vorgesehen zu sein scheinen. Wer also will schon im tosenden Verkehr sein Leben ein zweites Mal riskieren? Schon als nichtbehinderter Fußgänger ist es ein Spießrutenlauf um wild parkierte Autos herum. In Bangkok darf man die Fußgängerzone auch noch mit Motorradfahrern teilen, die einen – im besten Fall – waghalsig umkurven. Garküchen und Läden sind gleich am Straßenrand mit minimalem Abstand zur Fahrbahn. Es ist daher ratsam, genau zu schauen, wo man hintritt, wenn man nach dem Einkauf wieder auf die Straße will, sonst riskiert man mit der Fast food in der Hand den Fast death. In Bangkok wie in Hua Hin.

Schwerelos in der Hitze der Nacht

Unter diesen Umständen war die Begegnung mit einem jungen Thai, der in der einsetzenden Dämmerung mit zögerndem Schritt, aber doch bemerkenswert zielstrebig am Straßenrand entlanglief, doch ziemlich ungewöhnlich. Er tastete den Asphalt mit einem weißen Blindenstock ab und hielt den Kopf leicht gesenkt, wie das bei Blinden üblich ist. Er trug ein übergroßes, weißes Hemd, das ihn bei jedem Schritt flügelgleich umflatterte, was ihm aus der Distanz gesehen einen Anschein von Schwerelosigkeit verlieh.

Es war rush hour. Der Verkehr donnerte an ihm vorbei, die Neonlichter der Geschäfte im Hintergrund tauchten seine Silhouette in ein gespens­tisches Licht – ein einsamer Wanderer inmitten des Chaos.

Was seine Erscheinung aber erst recht auffällig machte: Der blinde Thai hatte strohblondes Haar, das die Lichter um ihn reflektierte, so dass er wie von einem Heiligenschein umflort schien. Es sah aus, als würde sich hier ein Erleuchteter den Weg durch die Verkehrshölle zum Nirvana bahnen. Der weiße Stock in seiner Hand tat ein Übriges, um ihm die Aura eines übernatürlichen Wesens zu verleihen, das unbeirrt inmitten des irdischen Jammertals seinen Weg geht. Ein Bild für die Götter.

Später, beim Abendessen, kam ich auf den Mann zu sprechen, den auch meine Frau und die Tochter gesehen hatten. Ich rätselte, mehr zu mir selbst sprechend, was wohl ein Blinder davon haben könne, wenn er sein Haar strohblond färbt und dies erst noch in einem sozialen Umfeld, das vorwiegend schwarzhaarig ist. Hat ihm jemand gesagt, dass dies besonders modisch und schick sei? Auf einen Farang wirkt es eher befremdlich, wenn die Thais ihr tiefschwarzes, dichtes Haar hellblond färben, unter denen einen dunkle Augen aus sonnengebräunten Gesichtern anfunkeln. Wer macht sowas mit einem Menschen, der sich gar nicht im Spiegel sehen kann? Wer hat ihm das angetan?

Signalfarbe Weiß

Es wurde einen Moment lang still am Tisch. Die Frage schien beide zu beschäftigen. Dann platzte die elfjährige Tochter heraus: „Er hat weißes Haar, damit man ihn besser sieht, wenn es dunkel wird und er nicht überfahren wird“. Na, wer sagt‘s denn.


Über den Autor

Khun Resjek lebt mit seiner thailändischen Frau und Tochter in Hua Hin. Seine Kolumne „Thailand Mon Amour“ illustriert auf humorvolle Weise den Alltag im „Land des Lächelns“ aus der Sicht eines Farang und weist mit Augenzwinkern auf das Spannungsfeld der kulturellen Unterschiede und Ansichten hin, die sich im Familienalltag ergeben. Ein Clash der Kulturen der heiteren Art, witzig und prägnant auf den Punkt gebracht.

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