Das Kartenhaus von Caracas

 Präsident Nicolás Maduro. Foto: epa/Miraflores Press Handout
Präsident Nicolás Maduro. Foto: epa/Miraflores Press Handout

CARACAS (dpa) - Bereits im Oktober könnte in Venezuela eine der größten Staatspleiten der westlichen Hemisphäre drohen. Der radikale Staatsumbau von Präsident Maduro hängt auch mit der Angst vor der Pleite zusammen. Alles wird verscherbelt, doch das Kartenhaus droht einzustürzen.

Es ist neblig am frühen Morgen, das passt zu dem Ambiente hier. Etwas mysteriös, nicht so richtig zu durchschauen, was hier läuft. Wie das ganze Land. Der Flugplatz Oscar Machado Zuloaga liegt auf einer Hochebene, 20 Kilometer außerhalb von Caracas.

Dutzende Privatflugzeuge stehen hier, Kisten werden eingeladen. Kaum Kontrollen. Es gibt Gerüchte, dass von hier Kokain ausgeflogen wird. Wohl dem, der dem Chaos noch entfliehen kann und Auslandskonten hat.

Venezuela steht kurz vor dem Ruin. Das hier aber ist eine Art Parallelwelt. Gemessen an der Einwohnerzahl gilt Venezuela als Land mit der siebtgrößten Zahl an Privatflugzeugen. «Viele fliegen mittlerweile zum Einkaufen nach Miami», erzählt ein Geschäftsmann.

In der Nähe gibt es Müllkippen, in denen Menschen nach Essensresten suchen. Während die einen ihre Flugzeuge für die Flucht in eine andere Realität besteigen, könnte es für die Armen noch schlimmer werden. Die Wellen, die der drohende Umbau zur Diktatur durch Präsident Nicolás Maduro schlägt, verdecken fast den Blick auf das Unheil, das in einer der größten Staatspleiten der westlichen Hemisphäre enden könnte. Maduros harte Hand hängt auch damit zusammen, dass er glaubt, die Pleite so vielleicht abzuwenden.

Kritisch werde es im Oktober und November, sagt der Chef der Banco Venezolano de Credito, Germán García-Velutini. «Dann sind jeden Monat rund zwei Milliarden US-Dollar zurückzuzahlen.» Zur Finanzierung der Regierunspläne und sozialen Wohltaten waren jahrelang für Anleihen des Staatskonzerns PDVSA hohe Zinsen gewährt worden. Das rächt sich nun. Im Moment werde versucht, alles zu Geld zu machen. «Wie wir hier sagen: Sie verkaufen alles bis zur Schwiegermutter», sagt der oberste Banker eines der bekanntesten Geldinstitute des Landes.

Venezuela wirkt gerade wie ein fragiles Kartenhaus, auch die Finanziers Russland und China werden angeblich langsam sehr nervös. Eigentlich müsste das Parlament grünes Licht geben für den Verkauf der «Juwelen», zum Beispiel von Ölfeldern in der Orinoco-Region. Aber die von Maduro geschaffene «Volksversammlung», die das Parlament einfach abgelöst hat, gibt dem Präsidenten mehr Handlungsspielraum. Gegen den Willen der Opposition wurden auch die Goldsreserven mehr als halbiert, von über 360 Tonnen Gold auf geschätzt 170 Tonnen.

Venezuela hat vier Hypotheken, die es nun zu erdrosseln drohen.

- Der Ölfluch: Das Land hat mit den Quellen etwa am Maracaibo-See die größten Reserven der Welt. Das hat aber auch eine fatale Abhängigkeit geschaffen - 95 Prozent der Exporteinnahmen kommen vom Öl, allein rund zehn Milliarden Dollar vom größten Abnehmer, den USA. Wenn die Vereinigten Staaten plötzlich die Einfuhr stoppen wegen Maduros Marsch in die Diktatur, ist das Land wohl pleite. Dessen Vorgänger Hugo Chávez hatte das Glück eines Ölpreises von zeitweise 100 Dollar je Barrel. Heute gibt es gerade noch 43 Dollar.

- Staatliche Misswirtschaft: Tausende Ölarbeiter mit viel Know-how, aber zu wenig Linientreue wurden gefeuert. Das Militär, das viele Sektoren dominiert, erwies sich als schlechter Unternehmer. Staatlich festgesetzte Preise ließen ganze Branchen kollabieren, weil sich die Produktion nicht mehr lohnte. Früher half der Staat Bauern bei der Finanzierung von Saatgut und Dünger, das Geld fehlt nun. So muss immer mehr importiert werden. Weil Schulden bedient werden müssen, fehlt Geld dafür. Plötzlich hungern Menschen im ölreichsten Land.

- Korruption: Es kommt nicht von ungefähr, dass die USA gegen mehr als 20 Funktionäre Finanzsanktionen verhängt haben. Konten, auf die US-Behörden Zugriff haben, wurden eingefroren. Viel Geld scheint in dunklen Kanälen zu versickern, in den «Panama Papers» gibt es viele Hinweise auf Geldanlagen der Regierungselite in Steueroasen. Ein Privatunternehmer sagt, die Beteiligungen des Militärs an Unternehmen hätten den Zweck, Loyalität zu sichern. «Sie dienen der Bereicherung für mittlere und niedere Generalsränge.» Und Lebensmittelpakete, die vom Militär an Anhänger der Regierung verteilten soll, landen oft auf dem Schwarzmarkt. Die USA bezichtigten zudem Vizepräsident Tareck El Aissami, sich am Kokainhandel zu beteiligen, was er bestreitet.

- Benzin-Irrsinn: Der Raffinerie-Komplex Paraguaná gilt von der Kapazität her als der drittgrößte der Welt. Bis zu 950.000 Barrel Öl könnten pro Tag verarbeitet werden. Aber heute werden keine 40 Prozent davon geschafft. So muss Venezuela für mehrere Milliarden Dollar Benzin einführen - selbst vom Erzfeind USA. Der Sprit ist dennoch der billigste der Welt. Man bekommt derzeit für einen US-Dollar bis zu 1.500 Liter. Gerade die Armen haben aber kein Auto, die Folgen der horrenden Benzin-Subventionierung treffen sie am stärksten - denn auch deshalb fehlt Geld für den Lebensmittelimport.

Viele aus der sozialistischen Führungselite verfolgen in diesen Tagen sehr kapitalistische Motive. Man schart sich um Maduro, damit der dafür sorgt, dass die Schulden bezahlt werden. Viele halten Anteile am staatlichen PDVSA-Ölkonzern - ihnen drohen bei einer Pleite massive Verluste. Doch der wahre Verlierer wäre «ihr» Volk.

Während die meisten Menschen in Schlangen vor oft leeren Supermärkten stehen, bestellt die Oberschicht für ein Vielfaches des Preises Einkaufskörbe beim Schwarzmarkthändler, der dezent in die Tiefgarage liefert. Oder fliegt nach Miami. Die ärmeren Bürger müssen mit einem Mindestlohn von rund zehn US-Dollar im Monat auskommen (nach dem aktuellen Schwarzmarktkurs). Die Inflation, noch so ein Rekord, ist die höchste der Welt. Daher wird in Caracas trotz Krise kräftig gebaut, Immobilien sind die einzige noch sichere Anlage.

Wie konnte das Land so abstürzen? Rückblick: Dass die Sozialisten seit 1999 regieren, hat viel mit Hugo Chávez zu tun. Charismatisch und anders als Maduro in der Lage, Wahlen demokratisch zu gewinnen.

Er krempelte mit den Ölmilliarden den Staat um, verstaatliche Schlüsselindustrien und ließ sogar das Pferd im Staatswappen nach links statt nach rechts laufen. Hunderttausende Wohnungen wurden gebaut, üppige Mindestlöhne eingeführt, ebenso kostenloser Impfschutz und Zahnersatz, subventionierte Lebensmittel. Die Armutsquote im 31-Millionen-Einwohner-Land sank von 50 auf zeitweise 30 Prozent.

Vieles galt als beispielhaft: Etwa die finanzielle Förderung des «Sistema», eines weltweit kopierten Ausbildungsprogramms von Kinder- und Jugendorchestern. Es brachte einen der besten Dirigenten der Welt hervor, Gustavo Dudamel. Er hielt lange zu den Sozialisten, auch zu Maduro, doch heute sagt er: «Es reicht». Zu viele Tote, zuviel Leid.

In besseren Zeiten wurde zudem nichts zurück gelegt, sondern die Auslandsverschuldung noch in die Höhe getrieben. Das rächt sich nun.

Ricardo Hausmann war Planungsminister in Venezuela und lehrt heute in Harvard. Seit 2013 sei das Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf um 40 Prozent gesunken, rechnet er vor. «Die Wirtschaftskatastrophe in Venezuela ist schlimmer als jede andere in der Geschichte der USA, Westeuropas oder des übrigen Lateinamerikas», schreibt er in einem Beitrag für das «Project Syndicate». Allein die Ölexporte seien - auch wegen der maroden Förderanlagen - von 2012 bis 2016 um 2.200 Dollar pro Kopf gefallen. Rund 75 Prozent der Venezolaner seien von massivem Gewichtsverlust betreffen, rund 80 Prozent würden als arm gelten.

«Kein Land ist vom Anteil am BIP oder dem Export her stärker im Ausland verschuldet.» Wenn das sozialistische Kartenhaus einstürzen sollte, sei eines klar: «Die beispiellose Wirtschaftskatastrophe wird die konzertierte Hilfe der internationalen Gemeinschaft erfordern.»

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