Die EU muss sich beweisen

Foto: epa/Patrick Seeger
Foto: epa/Patrick Seeger

BRÜSSEL: Jeder macht seins: Das Krisenmanagement der Europäischen Union rumpelt. Auch EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen übt Kritik an Alleingängen. Vor dem nächsten Videogipfel der Staats- und Regierungschefs sind trotzdem einige stolz auf das Erreichte.

Die Grenzen dicht, der Binnenmarkt gelähmt, die Nerven aufgerieben: Die Corona-Krise wird für die Europäische Union zur Bewährungsprobe. Am Donnerstag nehmen die 27 Staaten neu Anlauf, endlich an einem Strang zu ziehen. Bundeskanzlerin Angela Merkel und die übrigen Staats- und Regierungschefs treffen sich wieder zum Videogipfel. Gleichzeitig tagt das Europaparlament in einer Art Notformat, um trotz Pandemie überhaupt noch Beschlüsse fassen zu können.

Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen übte am Vormittag scharfe Kritik an den Alleingängen der EU-Staaten in der Corona-Krise. «Als Europa wirklich füreinander da sein musste, haben zu viele zunächst nur an sich selbst gedacht», sagte von der Leyen bei der Sondersitzung des Europaparlaments. «Und als Europa wirklich beweisen musste, dass wir keine «Schönwetterunion» sind, weigerten sich zu viele zunächst, ihren Schirm zu teilen.»

Inzwischen habe sich der Trend umgekehrt und die Staaten hätten begonnen, einander zu helfen, fügte die Kommissionschefin hinzu. «Europa ist wieder da», sagte von der Leyen. «Aber die Menschen in Europa verfolgen, was als Nächstes passiert. Und wir alle wissen, was auf dem Spiel steht.»

WAS SCHIEF LIEF

Drei Dinge haben in den rund vier Wochen seit Ausbruch der Krise in Europa besonders viel Unmut gestiftet. Eines war die Entscheidung Deutschlands und Frankreichs, die Ausfuhr knapper medizinischer Schutzkleidung an EU-Partner zu kappen. Italien und andere Staaten fühlten sich in ihrer Not alleine. Dann kam die einseitige Einführung schärfster Kontrollen an Grenzen, die in Europa eigentlich offen sein sollten. Lastwagen stauten sich Dutzende Kilometer, wichtige Güter hingen fest. Die EU-Kommissionschefin schimpfte, drang aber nicht wirklich durch. Und schließlich machte auch bei den Regeln zur Eindämmung des Virus jeder Staat seins.

WAS GEKLAPPT HAT

In Erwartung einer Jahrhundertkrise für die Wirtschaft gelangen den 27 Staaten und den EU-Institutionen allerdings binnen weniger Tage beispiellose Entscheidungen: Die seit Jahrzehnten geltenden Schulden- und Defizitregeln wurden ausgesetzt und Staatszuschüsse an Unternehmen weitgehend freigegeben, damit haben die 27 Länder fast völlig freie Hand zur Unterstützung ihrer Wirtschaft. Auf EU-Ebene wurden zudem Milliarden aus dem EU-Haushalt umgewidmet und gigantische Anleihekäufe der Europäischen Zentralbank gestartet. Vor nur zwei Wochen wäre vieles davon undenkbar gewesen, sagt ein EU-Diplomat. Das müssten Kritiker bei aller Frustration anerkennen: «Wenn man sich anschaut, was wir getan haben, muss man sehen, wo wir noch vor einem Monat waren.»

WAS DER VIDEOGIPFEL NUN BRINGEN SOLL

Aber die Pandemie galoppiert in atemberaubendem Tempo, der Absturz der Wirtschaft ängstigt fast noch mehr als Covid-19 selbst, und so wollen einige Länder schon jetzt nachlegen. Vor dem Videogipfel verlangten Frankreichs Präsident Emmanuel Macron und acht weitere Staats- und Regierungschefs, nun auch das letzte Tabu umzuwerfen. Ein «gemeinsames Schuldeninstrument» fordern sie. Bekannt ist das unter dem klangvollen Namen Corona-Bonds. Bekannt ist auch: Deutschland, die Niederlande und einige andere Länder sind dagegen. Umstritten ist auch, wie und wann der Eurorettungsschirm ESM genutzt wird. Die angedachte Gipfelerklärung setzt praktischer an. Der Grenzverkehr soll besser fließen, gemeinsam Schutzausrüstung beschafft, Forschung an Impfstoffen und Arzneien forciert werden. Weitere Schritte gegen die Wirtschaftskrise riss der Entwurf des Papiers nur vage an.

WAS IM EU-PARLAMENT ANLIEGT

Einige der von der EU-Kommission vorgeschlagenen und von den EU-Ländern vereinbarten Maßnahmen brauchen ein ordentliches Gesetzgebungsverfahren. Deshalb muss das Europaparlament tagen. «In diesen schwierigen Zeiten ist es unsere Pflicht, im Dienste unserer Bürger zu stehen», sagte Parlamentspräsident David Sassoli zu Beginn der Tagung. Während der eintägigen Plenarsitzung in Brüssel sollten die Abgeordneten über drei Verordnungs-Vorschläge entscheiden. Einer davon betraf Leerflüge von Airlines, die ihre Start- und Lande-Slots an Flughäfen nicht verlieren wollen. In den zwei weiteren sollte über Verordnungen entschieden werden, die den EU-Staaten bei der finanziellen Bewältigung der Covid-19-Krise helfen sollen.

WIE DIE ABGEORDNETEN ENTSCHEIDEN

Dass die EU-Abgeordneten über die Ferne per E-Mail abstimmten, war eine Premiere - von den 705 EU-Abgeordneten waren am Donnerstag nur wenige im Brüsseler Plenarsaal anwesend. Die übrigen verfolgten das Plenum online. Für die Abstimmung bekamen die Abgeordneten Stimmzettel per E-Mail. Sie mussten diese ausdrucken, ausfüllen und eingescannt oder abfotografiert via E-Mail zurücksenden. Das braucht Zeit. Die Ergebnisse aller Abstimmungen sollten am Donnerstagabend (gegen 22.30 Uhr) bekannt gegeben werden. Aus Parlamentskreisen gab es bereits Kritik an der Methode - einige der EU-Abgeordneten hätten keinen Drucker und dürften nicht in ihre Büros, was die Abstimmung unmöglich mache. Parlamentsvize Katarina Barley weiß, das mit dem Ausdrucken sei schon «sehr, sehr Old School». Aber eine technische Alternative fand sich auf die Schnelle nicht.

WARUM VIDEODIPLOMATIE VOLLER TÜCKEN STECKT

Auch im Rat der EU-Länder behilft man sich in der Not, wie es eben geht. Nur die 27 EU-Botschafter verhandeln noch in Person, Minister oder die Chefrunde debattieren in Videoschalten, dann folgt aus formalen Gründen noch ein Umlaufverfahren. Das alles geht nicht immer glatt. Neulich brach in einer Videoschalte die Leitung zusammen, ein Minister musste sich per Telefon neu einwählen und keiner seiner Kollegen konnte ihn richtig verstehen, so erzählt es ein EU-Diplomat. Es rumpelt also in der EU, es liegt nicht nur an der Technik, aber sehr hilfreich ist die eben auch nicht.

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