Favelas kämpfen allein gegen das Virus

​Corona-Hotspot Brasilien

Menschen laufen in der Rocinha-Favela in Rio de Janeiro. Foto: epa/Antonio Lacerda
Menschen laufen in der Rocinha-Favela in Rio de Janeiro. Foto: epa/Antonio Lacerda

RIO DE JANEIRO: Brasilien hat die Marke von einer Million Infizierten durchbrochen. Fast 50.000 Patienten sind tot. Die Armenviertel von Rio de Janeiro und São Paulo leiden besonders. Mangels Staat organisieren sich die Bewohner dort selbst.

Als Laryssa da Silva ihren Job im Restaurant los war, wusste die Brasilianerin nicht mehr, woher sie den nächsten Teller Essen für sich und ihre beiden Kinder nehmen sollte. «Ich war ziemlich verloren.» Bis sie in ihrem Armenviertel in São Paulo «Straßenpräsidentin» wurde: eine von fast 700 Bewohnern, die darauf achten, dass während der Corona-Pandemie alle zu Hause bleiben oder Mundschutz tragen. Nun verteilt sie Pakete mit Lebensmitteln und Hygieneartikeln, leistet Hilfe und informiert über das Virus. Dafür bekommt sie selbst als eine der ersten ein Lebensmittelpaket.

Während die Regierung des rechtspopulistischen Präsidenten Jair Bolsonaro die Corona-Krise am liebsten aussitzen würde, organisieren sich die Bewohner der Armenviertel selbst. Die Favela Paraísópolis in São Paulo, wo 100.000 Menschen leben, hat nun sogar Ärzte und Krankenwagen unter Vertrag. Die reguläre Ambulanz kommt nicht mehr. «Wir haben erkannt, dass die Sache groß wird und die öffentliche Politik die Favelas nicht erreicht«, sagte Gilson Rodrigues, eine der Verantwortlichen. «Also machen wir unsere eigene Politik».

Auch Bewohner anderer ärmlicher Siedlungen haben Informationskampagnen gestartet, Lebensmittel und Hygieneartikel verteilt sowie Datenbanken erstellt. «Alles bereitet uns Sorgen», sagt Neila Marinho vom «Krisenkabinett» der Favela Complexo do Alemão in Rio de Janeiro. «Angefangen damit, dass die Leute wissen, was passiert. Bis dahin, dass wir ihnen Essen und Seife bringen.»

In Europa kehrt wieder Normalität zurück, aber Brasilien hat gerade die Marke von einer Million Corona-Infizierten durchbrochen. Fast 50.000 Menschen sind tot. In beiden Statistiken liegt Brasilien auf Platz zwei der am meisten betroffenen Länder der Welt. Nur in den USA ist es noch schlimmer. Die tatsächliche Zahl dürfte in Brasilien jedoch weit höher sein - auch, weil das Land sehr wenig testet.

Die Armensiedlungen von Rio und São Paulo, wo viele Schwarze leben, leiden besonders. Den Bewohnern fehlt es oft am Nötigsten. «Wer hier wohnt, hat kein Wasser, um sich die Hände zu waschen», sagt Gabriela Anastácia von der Sozialhilfe-Organisation «Observatório das Favelas». «Er kann sich nicht von anderen fernhalten, weil er mit fünf, sechs, neun Personen zusammenwohnt.» Die Wahrscheinlichkeit, an Covid-19 zu sterben ist in Rio für Favela-Bewohner fünfmal höher als für Leute aus wohlhabenden Gegenden.

Abfinden wollen sich die Menschen in den Favelas damit nicht. «Wir verbreiten so viele Informationen wie möglich, um die Auswirkungen des Virus zu reduzieren», sagt Neila Marinho. Mit Plakaten, Bannern und Lautsprecherdurchsagen informiert das «Krisenkabinett» die Bewohner im Complexo do Alemão über Corona. Das «Coletivo Papo Reto» hat sogar ein Lied komponiert, mit dem dazu aufgefordert wird, sich die Hände zu waschen und Menschenansammlungen zu vermeiden. 37.000 Lebensmittelpakete und 24.000 Hygiene-Kits sind auch schon verteilt.

Die Favela-Bewohner sind es gewohnt, sich selbst zu organisieren. An den Hügeln Rios siedelten sich zunächst ehemalige Sklaven an. Später übernahmen kriminelle Organisationen die Kontrolle. Der Staat spielt traditionell keine Rolle. Mehr Macht als Gouverneure und Bürgermeister haben Drogenbosse und Milizionäre.

In der Corona-Krise haben einige Gangs aus Angst vor einer Ansteckung Ausländern den Zugang zu den Favelas untersagt und Ausgangssperren für die Bewohner verhängt. Präsident Bolsonaro wollte keine Maßnahmen zur Eindämmung treffen - in der Favela Rocinha in Rio funktionierte die Ausgangssperre, weil eine Drogengang sie durchsetzte. Die Bande drohte: «Wer aus dem Haus geht, bekommt eine Kugel in den Kopf.»

Marinho ist im Complexo do Alemão nun schon seit drei Monaten zu Hause. Anderen fiel das schwer, sie mussten raus zum Arbeiten. So waren viele Läden nur kurz geschlossen. Viele Leute gingen bald wieder auf die Straße. «Wenn der Präsident sagt: «Das ist nur eine Grippe», rausgeht und so tut, als sei nichts - was machen dann wohl seine Wähler?» fragt Marinho.

Weil sie den offiziellen Angaben misstrauen, erheben die Favela-Bewohner sogar ihre eigenen Corona-Statistiken. Für Rio waren es am Sonntag 2014 Infizierte und 420 Tote. «Eines der größten Probleme in der Pandemie sind Falschnachrichten», sagt Marinho. Sie werden vor allem über WhatsApp verbreitet, wo viele Brasilianer aktiv sind, auch aus dem Regierungslager. Dem setzte das «Krisenkabinett» eine Aufklärungskampagne entgegen, ebenfalls per WhatsApp. Die Zeitung «Voz das Comunidades» enwickelte eine Corona-App.

Wissenschaftler, die die Rolle von Basisorganisationen in den Favelas untersucht haben, glauben, dass einkommensschwache Gegenden in Europa von den Erfahrungen lernen können. «Die Pandemie wird nie durch eine Politik von oben nach unten besiegt werden können», sagt die Sozialpsychologin Sandra Jovchelovitch von der University of London. «Das muss von der Gemeinschaft ausgehen. Dabei können die Favelas dem Norden eine Menge beibringen.»

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Leserkommentare

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TheO Swisshai 23.06.20 20:21
@Jürgen Franke / Immunsystem
Unter den Corona-Opfern sind angeblich nur 5% Raucher. Wieso gehören die nun zur Risikogruppe, müssten nicht viel eher die 95% Nichtraucher dazu gehören ?
Jürgen Franke 23.06.20 09:37
Lieber Michael, ich habe es zwar schon tausendmal
geschrieben, wiederhole es ab er trotzfdem noch einmal: Dreh und Angelpunkt für die Infektion ist das Immunsystem der Menschen. Raucher, Übergewichtige und mit anderen Vorerkrankungen, die Medikamente erfordern, wegen Herzbeschwerden o.ä. sind die Risikogruppe. Das Immunsystem wird jedoch auch durch häuslichen oder beruflichen Ärger geschwächt. Dazu kommt dass die Gesundheitssysteme mit Deutschland nicht vergleichbar sind. Das die Medien diese Situatuion verwenden, um die Angst der Menschen noch zu erhöhen, muß man leider akzeptieren. Bleib Du weiter gesund, ärgere Dich nicht über Deine Nachbarn und spiele weiter Golf. In Thailand sterben nach wie vor mehr Menschen im Straßenverkehr als durch desen Virus, der das ganze Land in den Ruin treibt.
TheO Swisshai 23.06.20 01:37
@Pascal Schnyder / Zahlen richtig interpretieren !
Die Zahlen die Sie für Ihre Interpretation heranziehen, halten aber auch nicht viel Stand und sagen vor allem genauso wenig aus. Brasilien ist wie Sie arrgumentieren, momentan an 24. Stelle der Fallzahlen. Unter vergleichbaren Staaten, also ohne Länder wie San Marino etc. liegt Brasilien allerdings bereits an 8. Stelle. Ausserdem sind die Fallzahlen, in den 6 europäischen Staaten die bis jetzt noch vor Brasilien platziert sind, seit Anfangs Mai kaum noch gestiegen, in Brasilien hingegen ist es zur der Zeit erst richtig losgegangen und die Fallzahlen steigen dort nach wie vor steil in die Höhe. Was sagt da so ein Vergleich noch aus, doch sicher nicht dass in Brasilien jetzt alles halb so schlimm, oder weniger schlimm ist ?

Die einzige Realität sind die 50'000 Toten und die vielen die noch folgen werden. Schöner und richtiger wird diese Zahl jedoch nicht mehr werden, da können Sie noch soviele Zahlen interpretieren und vortragen wie Sie wollen.
See You 23.06.20 01:22
@Pascal Schnyder
Da haben Sie natürlich vollkommen Recht! Nur, zu einer aussagekräftigeren Interpretation muss man natürlich auch die Anzahl der Tests/1 Mill. Einwohner heranziehen. Als Beispiel hat die USA ca. 86.000 Tests/1 Mill. durchgeführt, Brasilien dagegen ca. 11.500/1 Mill. Also ist logischerweise auch anzunehmen, dass bei ca. 800 % mehr Tests natürlich auch wesentlich mehr Infizierte gefunden werden. In den meisten europäischen Ländern liegen die Test-Raten sogar noch höher. Sicherlich lässt sich hier mathematisch nicht alles aufs "I-Tüpfelchen" hochrechnen, aber meiner Meinung nach spielen diese Konstellationen schon eine gewaltige Rolle bei der Gesamt-Beurteilung!
Pascal Schnyder 22.06.20 22:07
Zahlen richtig interpretieren !
Brasilien liegt seit einigen Tagen an 24. Stelle der Fallzahlen pro Einwohner. Weiter vorne sind 8 Europaeische Laender, USA und Singapore! Man muss also die Zahlen im Durchschnitt pro Eiwohner nehmen, und nicht die totale Zahl. Die totalen Zahlen lassen etwas schoener oder schlimmer erscheinen, sagen aber nichts ueber die die Realitaet!