Corona auf Flüchtlingsinseln

​«Nur noch eine Frage der Zeit»

Foto: epa/Filippo Monteforte
Foto: epa/Filippo Monteforte

ATHEN/LESBOS/ISTANBUL: Zahlreiche Hilfsorganisationen fordern, die Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln angesichts der Corona-Ausweitung sofort zu räumen. Doch im Wahnsinn der Pandemie gehen die Hilferufe unter, während die Situation vor Ort immer absurder und unmenschlicher wird.

Inmitten von Müll, Schlamm und Gestank zu leben und das dreckige Lager wegen Corona-Ausgangsbeschränkungen nun nicht einmal mehr verlassen zu dürfen - das ist mittlerweile der Alltag von Flüchtlingen und Migranten auf den griechischen Inseln. Gab es für die Menschen schon zuvor kaum noch Perspektiven, kommt jetzt die Angst vor dem Virus hinzu. Diese Sorge teilen die Hilfsorganisationen: Sollte Corona in einem der Lager wüten, könnten die Todesfälle weitaus höher liegen als in einer normalen Umgebung.

Forderungen nach der Evakuierung der Lager gibt es immer wieder, Lösungen jedoch keine. Athen weiß nicht, wohin mit den Menschen, und die EU-Staaten können sich nicht darauf verständigen, sie untereinander zu verteilen. Immerhin sollen die ersten Kinder und Jugendlichen schon bald auf Deutschland und einige andere Länder verteilt werden - doch auch hier geht die EU-Kommission wegen der Corona-Krise von Verzögerungen aus.

«Die Menschen leben jetzt schon unter extrem risikoreichen Bedingungen, auf engstem Raum eingepfercht, ohne ausreichende Hygiene», beschreibt Boris Cheshirkov vom UN-Flüchtlingshilfswerk (UNHCR) die Situation auf Lesbos, wo derzeit rund 20.000 Flüchtlinge und Migranten gezählt werden, bei einer Aufnahmekapazität von gerade mal 3.000 Plätzen. Die Organisation fordert seit Monaten, die Menschen aufs Festland zu bringen. «Es ist an den Behörden, zu handeln und die Kapazitäten auf dem Festland auszuweiten», sagt Cheshirkov. Athen aber ist derzeit vorrangig mit Corona beschäftigt.

Solange eine Evakuierung nicht geschieht, versucht das UNHCR, den Staat bei der Ausrüstung und Vorbereitung auf Corona zu unterstützen. «Wir verteilen mehr Geld an die Menschen, damit sie Hygieneartikel wie Desinfektionsmittel kaufen können, und unterstützen den Staat dabei, die Hygienemöglichkeiten vor Ort zu verbessern - mehr Seife, mehr Wasserhähne und Toiletten.» Bisher stünden die Menschen weiterhin zu Dutzenden eng gedrängt in Schlangen, um an eine der wenigen Waschmöglichkeiten zu gelangen.

Die Behörden versuchen derzeit, medizinische Container zu errichten, in denen infizierte Menschen isoliert und behandelt werden könnten. «Vor dem Lager Moria haben sie einen Container aufgestellt», sagt Dimitris Patestos, Chef der Lesbos-Niederlassung der Organisation Ärzte der Welt. «Im Container arbeiten ein Arzt und eine Krankenschwester. Soll das eine Maßnahme zur Vorbeugung und Bekämpfung des Coronavirus sein?», fragt der Kardiologe. Das Virus könne jederzeit ausbrechen, davon ist er überzeugt. Organisationen wie das UNHCR haben die Zahl ihrer Mitarbeiter wegen der Pandemie bereits reduziert. In einem Lager wie Moria, wo viele nach dem Winter ohnehin schon husten, schlecht ernährt sind und an verschiedenen Krankheiten leiden, könnten die Auswirkungen extrem sein.

Im Rahmen der Maßnahmen, die der griechische Staat vor zwei Wochen gegen das Coronavirus getroffen hat, dürfen neben den Bürgern nun auch die Lagerbewohner nur noch in Ausnahmefällen ihr «Zuhause» verlassen - und dann nur 100 Menschen pro Stunde. In Gruppen loszuziehen ist verboten, einzeln müssen sie sich bei der Polizei melden, um Einkäufe oder Arztbesuche zu unternehmen. Von der Polizei werden sie etwa auf Lesbos zur Inselhauptstadt Mytilini gebracht und auch wieder zurück zum Lager gefahren.

Die strengen Corona-Maßnahmen, die Griechenland im Vergleich zu anderen Ländern früh getroffen hat - Schulen und Gastronomie zu schließen und Ausgang nur noch für Besorgungen und den Weg zur Arbeit zu erlauben, sind der einzige Hoffnungsfunke. Das Land hat rund 11 Millionen Einwohner - in etwa so viele wie Baden-Württemberg - und zählt bisher nur 1.156 Infizierte und 40 Tote, während das deutsche Bundesland (Stand Sonntag 16.00 Uhr) aktuell auf rund 11.500 Fälle und 128 Todesfälle kommt.

Auf die griechischen Inseln dürfen generell nur noch Einwohner reisen, die per Steuerbescheid nachweisen können, dass sie dort leben und arbeiten. Lesbos hatte bisher zwei Corona-Fälle, die weit vom Lager Moria entfernt in anderen Orten der Insel lagen. Gelingt es Athen, die strengen Maßnahmen weiterzuführen und die Corona-Kurve verhältnismäßig flach zu halten, besteht eine kleine Chance, dass das Virus nicht in die Lager gelangt.

Für den anderen Krisenhotspot, die griechisch-türkische Grenze, gibt es derweil vorläufig Entwarnung: Die provisorischen Zeltlager am türkischen Grenzübergang Pazarkule wurden am vergangenen Freitag aufgelöst. Laut türkischer Medienberichte wurden die Menschen wegen der Coronavirus-Krise unter Quarantäne genommen. Wohin sie gebracht wurden, ist jedoch unklar. Migranten berichteten der Zeitung «Birgün», dass die Polizei sie gezwungen habe, die Zelte zu verlassen und diese dann mitsamt ihren Habseligkeiten abgebrannt habe. Bei der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu dagegen hieß es, die Migranten hätten «ihre Bitte, das Areal zu verlassen», den Behörden übermittelt, sie seien zunächst in eine zweiwöchige Quarantäne geschickt worden und würden dann in «angemessene» Orte gebracht.

Wie viele Menschen sich vor der Räumung am Grenzübergang Pazarkule aufgehalten hatten, war unklar. Nach Schätzungen griechischer Sicherheitskräfte waren es wenige Hundert, der türkische Innenminister Süleyman Soylu sagte am Freitag, 5.800 Migranten seien von der Grenze weggebracht worden. Soylu warnte auch, dass die Migrationskrise noch nicht vorbei sei. Es handele sich lediglich um eine Vorsichtsmaßnahme. Wenn das Infektionsrisiko vorüber sei, werde man Migranten, die wieder zum Grenzübergang wollten, nicht aufhalten.

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