Krisenstimmung auf Volkskongress

​«Herausforderungen wie nie zuvor»

Delegierte nehmen an der Plenarsitzung des chinesischen Volkskongresses in der Großen Halle des Volkes teil. Foto: Huang Jingwen/XinHua/dpa
Delegierte nehmen an der Plenarsitzung des chinesischen Volkskongresses in der Großen Halle des Volkes teil. Foto: Huang Jingwen/XinHua/dpa

PEKING: Mit elf Wochen Verspätung beginnt das wichtigste politische Treffen des Jahres in China. Der Volkskongress soll in der Corona-Krise wieder Normalität ausstrahlen. Doch die zweitgrößte Volkswirtschaft steckt tief in der Krise - auch droht eine Eskalation mit den USA.

Chinas Regierungschef Li Keqiang trägt zur Eröffnung des Volkskongresses keinen Mundschutz. Damit gehört er in der Großen Halle des Volkes zur Minderheit. Die Gesichter der rund 2900 Delegierten, die im Plenarsaal dicht zusammensitzen, sind hinter blauen Chirurgen-Masken verborgen. Durch sie stimmen die Abgeordneten auch die Nationalhymne an. Zum Auftakt der Jahrestagung am Freitag gelten keine Abstandsregeln - aber die Abgeordneten waren vorher auch mindestens zweimal auf das Coronavirus getestet worden. Mit einer Schweigeminute gedenkt die Versammlung der Opfer der Pandemie.

In China war das Virus zuerst ausgebrochen. Die Volksrepublik ist auch das Land, in dem zuerst die Erholung begann. Doch zur Eröffnung des Volkskongresses wird deutlich, dass auch Monate nach dem Höhepunkt der Pandemie noch längst nicht wieder Normalität eingekehrt ist. Als «Tankstelle der Zuversicht» hatte Chinas staatliche Nachrichtenagentur Xinhua das wichtigste politische Treffen des Jahres angekündigt. Von Aufbruchsstimmung ist am Eröffnungstag ist aber nicht viel zu spüren - eher Unsicherheit und Nervosität.

«Gegenwärtig und in der näheren Zukunft wird China vor Herausforderungen stehen wie nie zuvor», warnt Premier Li Keqiang das Milliardenvolk in seiner Regierungserklärung, während ihm der Schweiß auf der Stirn steht. Für die Wirtschaft hat er nur bedingt gute Nachrichten im Gepäck. Zwar verkündet der Regierungschef Milliardenhilfen; sie fallen aber gemessen an der heutigen Wirtschaftleistung deutlich geringer aus als nach der Weltfinanzkrise 2008.

Viele Beobachter hatten auf mehr Impulse gehofft. Darüber, wann die Talsohle durchschritten ist, scheint in China noch Unsicherheit zu bestehen. Auf ein Wachstumsziel für die Wirtschaft, wie es seit 2002 in jedem Jahr verkündet wurde, will sich die Führung dieses Mal lieber überhaupt nicht festlegen. Zu unsicher die Zeiten.

Zwar räumt der Regierungschef selbstkritisch «viele Schwachstellen» in der Reaktion auf den Ausbruch des Virus ein. Er schaltet aber sofort auf Defensive und verteidigt den Umgang Chinas mit dem Virus gegen Kritik aus dem Ausland. Es habe eine «offene, transparente und verantwortliche Haltung» in der internationalen Kooperation eingenommen und «rechtzeitig» Informationen zur Verfügung gestellt.

Seine Antwort zielt vor allem auf Vorwürfe von US-Präsident Donald Trump, China habe den Ausbruch anfangs vertuscht, nicht ausreichend mit dem Ausland kooperiert und damit zur Ausbreitung des Virus weltweit beigetragen. China hat früh erkannt, dass die Frage der Schuld und Verantwortung für die Pandemie aufkommen könnte, und steuert massiv gegen - manchmal auch mit Desinformation, die Verwirrung über den Ursprung des Virus streuen sollen.

Wo es an guten Nachrichten für die Wirtschaft fehlt, müssen nationalistische Töne die Lücke schließen. Und wo innenpolitisch Nervosität herrscht, wird nach außen mit den Muskeln gespielt. So wird auch im Umgang mit Hongkong jede Zurückhaltung abgelegt: Nach mehr als einem halben Jahr der Proteste gegen den wachsenden Einfluss Pekings in der autonom regierten chinesischen Sonderverwaltungsregion greift Chinas Führung erstmals auch direkt ein.

Neue Sicherheitsgesetze, die sich gegen subversive Aktivitäten und ausländische Einmischung richten, sollen künftig für Ordnung sorgen. In Umgehung des Hongkonger Parlaments soll der Volkskongress die Gesetze erlassen. Selbst chinesische Sicherheitsorgane sollen dann in Hongkong eingesetzt werden können - ein klarer Bruch der bisherigen Autonomie nach dem Grundsatz «ein Land, zwei Systeme», der seit der Rückgabe der britischen Kronkolonie 1997 an China gilt. Viele Kritiker befürchten damit das «Ende Hongkongs».

Trump will sich hier «sehr stark» positionieren, aber Xi Jinping demonstriert dem US-Präsidenten mit dem Vorgehen, dass er keine Angst vor ihm hat. Der Streit um Hongkong ist nur ein kleiner Teil einer zunehmenden Konfrontation zwischen China und den USA, die im US-Präsidentschaftswahlkampf noch eskalieren dürfte. Die Rivalität der beiden Mächte wächst. Die Liste der Streitthemen ist lang: Chinas Druck auf das freiheitliche Taiwan, die Verfolgung der Uiguren und Tibeter, die Unterdrückung von Menschenrechten, der nicht beigelegte Handelskrieg oder die US-Sanktionen gegen Chinas Technologieriesen.

Der Ton verschärft sich mit jedem Tag. US-Außenminister Mike Pompeo, den Chinas Staatsmedien schlicht einen «Lügner» nennen, beschreibt Chinas Führung im Gegenzug als «brutales, autoritäres Regime». Über Jahrzehnte habe die Welt geglaubt, dass China durch zunehmenden Austausch und die Aufnahme in die Welthandelsorganisation (WTO) «mehr wie wir wird», sagte Pompeo. «Das ist nicht geschehen.»

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Leserkommentare

Vom 11. bis 21. April schließen wir über die Songkranfeiertage die Kommentarfunktion und wünschen allen Ihnen ein schönes Songkran-Festival.

Thomas Sylten 23.05.20 13:36
Solange der Westen weiter glaubt, allen anderen die Maßstäbe diktieren zu können, wird er vor den selbstbewusster werdenden Staaten in aller Welt zunehmend irrelevant. Ich denke, wir täten gut daran endlich zu akzeptieren dass die Kolonialzeit definitiv vorbei ist.