Chilenen lehnen neue Verfassung mit großer Mehrheit ab

Unterstützer des Lagers der Befürworter reagieren nach der Ablehnung des chilenischen Verfassungsreferendums. Foto: epa/Alberto Valdes
Unterstützer des Lagers der Befürworter reagieren nach der Ablehnung des chilenischen Verfassungsreferendums. Foto: epa/Alberto Valdes

SANTIAGO DE CHILE: Chile hätte wohl eine der progressivsten, sozialsten und ökologischsten Verfassungen der Welt bekommen können. Bei der Ausarbeitung des Textes wurden konservative Stimmen allerdings kaum gehört. Die Rechnung dafür gab es nun an den Urnen.

Die Chilenen haben in einem Referendum einer neuen Verfassung eine klare Absage erteilt. Knapp 62 Prozent der Wähler des südamerikanischen Lands lehnten den Entwurf für ein neues Grundgesetz ab, wie die Wahlbehörde am Montag mitteilte. Nur etwa 38 Prozent stimmten mit Ja.

Die neue Verfassung hätte Chile grundlegend verändert. Sie hätte ein Recht auf Wohnraum, Bildung und Gesundheit garantiert, eine Frauenquote von 50 Prozent in allen Staatsorganen festgeschrieben und den indigenen Gemeinschaften ein Selbstbestimmungsrecht eingeräumt. Das ging vielen Menschen in dem konservativen Land offenbar zu weit.

«Das chilenische Volk war mit dem Vorschlag nicht zufrieden und hat ihn an den Urnen klar abgelehnt. Ich nehme diese Entscheidung mit Demut an. Wir müssen auf das Volk hören», sagte der linke Präsident Gabriel Boric, der die neue Verfassung unterstützt hatte. «Diese Entscheidung verpflichtet uns, mit mehr Einsatz, Dialog und Respekt einen neuen Entwurf auszuarbeiten, der uns als Land eint.»

Die aktuelle Verfassung von 1980 stammt noch aus der Zeit der Militärdiktatur unter General Augusto Pinochet und bleibt nun vorerst in Kraft. Die Aufgaben des Staates sind auf ein Minimum reduziert, das Bildungs-, Gesundheits- und Rentensystem privatisiert. Zwar hat Chile das höchste Pro-Kopf-Einkommen in Südamerika, doch das Land mit rund 19 Millionen Einwohnern leidet auch unter großer sozialer Ungleichheit.

Eine neue Verfassung war eine der Hauptforderungen der sozialen Proteste 2019. Vor zwei Jahren sprachen sich noch knapp 80 Prozent der Wähler für die Ausarbeitung eines neuen Grundgesetzes aus. In der Verfassungsgebenden Versammlung waren vor allem Angehörige linker Gruppierungen vertreten, Konservative hingegen waren in dem Konvent stark unterrepräsentiert. Kritiker bemängelten deshalb, dass es sich bei den 388 Artikeln des Verfassungsentwurfs vor allem um eine linke Utopie handele, die den wirtschaftlichen Erfolg des Landes gefährden könne.

«Heute hat der gesunde Menschenverstand der Mehrheit über die Ideologie und Gewalt einiger weniger gesiegt», sagte der ultrarechte Politiker José Antonio Kast, der bei der Präsidentenwahl gegen Boric gescheitert war. Konservative Parteien und Interessensgruppen hatten vor der Ablehnung auch Ängste vor Enteignungen geschürt.

Die neue Verfassung hätte auch ein Recht auf Abtreibung garantiert. Derzeit sind Schwangerschaftsabbrüche nur in wenigen Ausnahmefällen möglich. Zudem wäre Chile als plurinationaler Staat definiert worden. Die Indigenen - rund zwölf Prozent der Bevölkerung - hätten innerhalb der Rechtsordnung ein eigenes Justizwesen aufbauen können. Die Gegner des Verfassungsentwurfs fürchteten, dass das die Gesellschaft eher spalten als einen könnte.

«Die wichtigste Lektion ist, dass eine Verfassung durch einen umfassenden und integrativen Dialog entsteht», sagte Senatspräsident Álvaro Elizalde von der Sozialistischen Partei im Radiosender Cooperativa. «Im Leben lernt man aus Niederlagen oft mehr als aus Siegen. Ich glaube, dass dies eine Gelegenheit für tiefgreifende Überlegungen ist, um den Kurs zu korrigieren.»

Wie es nun weitergeht, war zunächst unklar. Präsident Boric lud die Vertreter der politischen Lager zu Gesprächen über das weitere Vorgehen ein. «Lasst uns Chile über unsere berechtigten Differenzen stellen und einen neuen Verfassungsprozess auf den Weg bringen», sagte der Staatschef.

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