Wieso junge Schotten unabhängig sein wollen

​Bye, bye, London

SNP-Chefin Nicola Sturgeon bei der Vorstellung des SNP-Manifests in Glasgow. Foto: epa/Robert Perry
SNP-Chefin Nicola Sturgeon bei der Vorstellung des SNP-Manifests in Glasgow. Foto: epa/Robert Perry

EDINBURGH/ABERDEEN: Es brodelt in Schottland. Viele Bürger wünschen sich, ihr Land endlich vom Vereinigten Königreich loszueisen - und sehen in der anstehenden Wahl einen wichtigen Meilenstein. Besonders unter Jüngeren ist der Wunsch nach einem unabhängigen Schottland groß.

Michael Gray will raus aus dem Vereinigten Königreich - am besten so schnell wie möglich. Der 29-jährige angehende Anwalt hat sich dem Kampf für ein unabhängiges Schottland verschrieben. Mit einigen Mitstreitern hat er «Skotia» gegründet - ein multimediales, journalistisches Start-Up mit klarer Positionierung pro Unabhängigkeit.

Spätestens seit dem Brexit ist für Gray klar: «Die schottischen Stimmen spielen in London einfach keine Rolle.» Das große Ziel von Gray und vielen anderen Schotten: ein neues Unabhängigkeitsreferendum. Die schottische Nationalpartei SNP will, wenn sie bei der anstehenden Wahl am 6. Mai eine absolute Mehrheit holt, genau das fordern.

Der in Edinburgh lebende Gray ist mit seiner Vision bei weitem keine Ausnahme. In einer kürzlichen Meinungsumfrage sprachen sich bei den unter 35-Jährigen deutlich mehr als 60 Prozent für ein unabhängiges Schottland aus - erst in den über 45 Jahre alten Gruppen gab es keine Mehrheit mehr für eine Ablösung vom Vereinigten Königreich.

«Die Unter-50-Jährigen sind in den meisten Umfragen klar für die Unabhängigkeit und das ist schon lange der Fall», hält Kirsty Hughes vom Scottish Centre on European Relations fest. «Und das sind nicht nur Teenager, die radikaler denken.» Zeitweise lag die Zustimmung der Schotten in ihren Mitt-20er und 30er Jahren sogar noch höher als unter den Jugendlichen.

Auch Frederic Bayer gehört zu dieser Gruppe. «Ich habe schon früher gedacht, dass es für Schottland Sinn machen würde, ein eigenständiges Land zu sein», sagt der 25-jährige gebürtige Deutsche, der sich selbst als «German Scot» - also deutscher Schotte - bezeichnet. Bayer lebt seit 2015, als er sein Studium begann, in Schottland. Zuvor war er mit seiner Mutter nach England ausgewandert. Auch für ihn war der Brexit ein Wendepunkt.

Vor dem Referendum sei er mit anderen Freiwilligen durch die Städte gezogen, um mit Menschen über die EU zu sprechen, «faszinierend» sei das gewesen, erzählt er. Während in den britischen Medien Einwanderung und das Gesundheitssystem eine große Rolle im Pro-Brexit-Wahlkampf spielten, seien für die Schotten ganz andere Punkte entscheidend gewesen - etwa Fischfangquoten oder öffentlicher Nahverkehr.

Bei der Volksabstimmung über den Brexit im Jahr 2016 stimmten die Schotten mit einer klaren Mehrheit von 62 Prozent gegen den Austritt aus der EU. Für die Schottische Nationalpartei SNP, der Bayer selbst schon seit Jahren angehört, ist das eines der zentralen Argumente für ein neues Referendum. 2014 hatte sich noch eine knappe Mehrheit der Schotten gegen eine Loslösung vom Vereinigten Königreich entschieden - also noch vor der Entscheidung für den EU-Austritt. Doch der Brexit, da sind sich viele einig, hat der Unabhängigkeitsbewegung einen neuen Schub gegeben. Ohne den Verbund mit Großbritannien könnte der traditionell europafreundliche Landesteil nicht nur wieder der EU beitreten.

«Es gibt eine starke Korrelation einer großer Zustimmung zur EU und zur Unabhängigkeit Schottlands», erklärt Kirsty Hughes. Gerade die jüngeren Generationen, die mit den Freiheiten der Europäischen Union aufgewachsen seien, wüssten diese zu schätzen. Ob Studieren, Reisen oder Arbeiten im Ausland - viele dieser Möglichkeiten sind durch den Brexit komplizierter geworden. Auch beim Brexit-Referendum gab es diese Altersschere bereits. Hätten nur die jüngere Hälfte der britischen Bevölkerung abgestimmt, wäre der Brexit nie passiert.

Die Jüngeren, betont Hughes, seien auch bereits mit mehr schottischer Selbstbestimmung aufgewachsen als ihre Eltern und Großeltern. Seit 1998 haben die Regionalregierungen der britischen Landesteile mehr Entscheidungsgewalt unabhängig von London - derzeit ist das besonders spürbar, weil Schottland, Wales und Nordirland auch ihre Corona-Maßnahmen unabhängig von London gestalten. «Jüngere Menschen haben ein stärkeres Gefühl von Schottland als eigenständigem Land», so die Expertin.

In der Generation seiner Großeltern gebe es noch ein britisches Nationalgefühl, das er so selbst nicht mehr kenne, erzählt Michael Gray. Wer erlebt habe, wie die britische Regierung nach dem Krieg Häuser wieder errichtet und das staatliche Gesundheitssystem aufgebaut habe, fühle sich stärker zugehörig. «Jüngere Menschen sind da eher ein bisschen risikobereiter», fügt auch der in Aberdeen lebende Frederic Bayer hinzu.

Es sind entscheidende Wochen für die Zukunft Schottlands und des Vereinigten Königreichs. Weil Corona es nicht anders erlaubt, kämpfen die Unabhängigkeitsbefürworter in diesen Wochen vor allem online für ihre Vision. Statt Stammtisch gibt es Zoom-Diskussionen, statt Großveranstaltungen Social-Media-Kampagnen. Die SNP führt mit großem Abstand die Meinungsumfragen an, auch eine absolute Mehrheit scheint in Reichweite.

Doch nach einem möglichen Wahlsieg wird es erst richtig spannend: Bislang will London ein weiteres Unabhängigkeitsreferendum mit aller Macht verhindern. Gemeinsam sei man am stärksten, betont Premierminister Boris Johnson unermüdlich. Doch je eindeutiger das Wahlergebnis ausfällt, desto höher der Druck auf London. Michael Gray glaubt jedenfalls fest daran, dass Schottland den Schritt aus dem Königreich diesmal schaffen kann - er meint: «Aus einer Pro-Unabhängigkeits-Perspektive gibt es viele Gründe, hoffnungsvoll zu sein.»

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