Bücher und Musik

Bücher und Musik

Ich habe einen lieben Freund, der Bücher, nachdem er sie gelesen hat, entsorgt, d.h. in den Müll wirft. Für mich eine grauenvolle Vorstellung.

Wenn ich einen Roman lese, dann tauche ich ein in das Leben der beschriebenen Personen, vielleicht in eine Familie oder in die intime Phase fremder Menschen, in die ich aufgenommen werde. Ich bin Freund oder Gast dieser Romanfiguren, die in mir zu leben beginnen. Ich lerne von ihnen, lebe mit ihnen auf Zeit, vielleicht verliebe ich mich sogar in sie. Und dann wegwerfen? Unmöglich! Erst kürzlich habe ich das erste Buch, das ich als kleiner Junge gelesen habe, über eine Anzeige für teures Geld gekauft. Das Buch hieß „Der Zigeuner-Friedel“ und hat mich ganz sicher geprägt oder vorhandene Eigenschaften in mir verstärkt. Bücher und Musik waren und sind für mich die wichtigsten Begleiter meines Lebens. Noch heute lese ich täglich einige Stunden oder höre klassische Musik. Das verhindert auch, dass die alltäglichen Katastrophen auf der Welt mich runterziehen. Natürlich nehme ich auch am Weltgeschehen teil und beschenke mich, indem ich für soziale Projekte spende. Aber ich bin nicht bereit, ein Mitläufer in die Abgründe unserer Welt zu werden. Davor bewahren mich die Literatur und die Musik.

Bücher, die ich gelesen habe, verschenke ich gerne an Freunde, von denen ich weiß, dass sie daran auch Freude haben. Ich frage mich manchmal, wie Menschen leben können ohne Literatur und ohne Musik. Für mich wäre das ein elendes Schattendasein, traurig und fantasielos, auch wenn diese Leute es völlig anders sehen. Wer Thomas Mann nicht gelesen hat, Hesse, Böll oder Grass, was weiß der von Deutschland? Wer Dostojewski, Pasternak und die anderen großen russischen Schriftsteller nicht kennt, was weiß der über Russ­land und wie es tickt? Die Literatur ist der Eintritt ins Verständnis unserer Welt. Das können alle Medien nicht ersetzen. Die Musik ergänzt die Literatur. Wer wäre ich ohne Beethoven, ohne Bach, ohne Mozart, ohne Brahms oder Haydn? Okay, ich gebe zu, auch Schlager oder Chansons haben mich gelegentlich begeis­tert bzw. gut unterhalten. Ich mochte die Dietrich, die Knef, Udo Jürgens oder Reinhard Mey, mit dem ich seit vielen Jahren befreundet bin.

Heute besteht mein Tag aus Lesen, Hören und Schreiben. Ich habe angefangen, mein Leben aufzuschreiben. Das ist nicht einfach, wenn man in seine eigene Vergangenheit zurückkehrt. Man stößt auf Situationen, mit denen man lieber nicht mehr konfrontiert worden wäre. Man entdeckt aber auch Glücksmomente, die längst vergessen waren. Und dann höre ich wieder Konstantin Wecker, Hannes Wader, Klaus Hoffmann und Gottfried Schlögl, die alle in meinem Mainzer „unterhaus“ aufgetreten sind, die alle zu meinen Freunden geworden sind – auch wenn sie gegen Beethoven oder Shakespeare nie eine Chance hatten. Ich denke, dass die Kunst die Entwicklung der Menschheit entscheidend begleitet hat. Sie hat aus den Urmenschen den Weltbürger von heute erschaffen, kunstsinnig, poetisch, neugierig, tolerant und schaffensfroh. Leider hat sich parallel dazu eine kriegerische, nationalistische Art entwickelt, die ohne Musik und Literatur auskommt und die vielfach fremden Menschen höchst intolerant gegenübertritt – um es freundlich auszudrü­cken. Diese Gedanken machen mich traurig. Deshalb werde ich jetzt die Beethoven-Sonate, Opus 106, gespielt von meinem Freund, Wilhelm Ohmen, auflegen und noch einmal nachlesen, was Thomas Mann im „Zauberberg“ zu diesem Thema geschrieben hat. Dann ist der Tag wieder in Ordnung.

Überzeugen Sie sich von unserem Online-Abo:
Die Druckausgabe als voll farbiges PDF-Magazin weltweit herunterladen, alle Artikel vollständig lesen, im Archiv stöbern und tagesaktuelle Nachrichten per E-Mail erhalten.
Pflichtfelder
Francis Light 19.10.20 15:37
@Jan-Christian Severin
Ich stimme zu und denke, wenn man weniger hatte, dann hat man das mehr wertgeschätzt als heutzutage, wo man viel haben kann und das als selbstverständlich annimmt, dass es so ist. So werden viele Sachen inflationärer und oberflächlicher gesehen.

@Mag Rittinghaus: Bei uns im Ort kann man Bücher in der öffentlichen Bibliothek oder auch in einer Bücherzelle, die immer offen ist, abgeben. Es gibt ja auch das Bookcrossing, wo man Bücher einfach irgendwo liegen lasst. Habe mich vor über ca. 10 Jahre kurz damit beschäftigt, dann ist es aber in Vergessenheit geraten. Ich denke, das hat sich, obwohl eine sehr gute Idee, nie so richtig etabliert.
Mag Rittinghaus 19.10.20 12:22
ein wunderbarer beitrag, lieben dank, wir lieben bücher, wollen sie aber nicht sammeln und geben sie an book swaps oder 2nd hand bookstores ab, bekommen dort auch weiteren lesestoff, ich könnte niemals ein buch wegwerfen
Jan-Christian Severin 18.10.20 21:53
Gute Kommentare zu dem Thema. Es ist schwierig in Zeiten der Media-Überflutung und des zunehmenden Reichtums in weniger Händen in dieser Welt, der jüngeren Generation zu erklären, dass wir als Generation der 50iger mit weniger auch glücklich waren.
Francis Light 18.10.20 19:33
@Norbert
Musik hören tu ich gene im Auto, meist eher lauter. Aber kein Klassik oder deutsche Schnulzen/Schlager, sondern meist Dancemusik mit wuchtigen Bass und wachmachenden Rhythmus oder Rock bis Metallrock. Dann verstärkt sich am morgen die Koffeinwirkung gleich noch einmal.

Lesen viel, aber weniger Literaturklassiker als Sci-Fi, Wissenschsftsthriller oder vor allem Populärwissenschaft, bunt gemischt. Zur Zeit Robert Lustig "The hacking of the american mind". Der Titel ist etwas irreführend, aber es ist hochinteressant. Es geht u.a. um Unterscheidung Dopamine pathway (Reward, Pleasure) vs. Serotonin pathway (Contentment, happiness). Und wie die Industrie das nutzt, aus dem ersteren Profit zu schlagen (mit all den Schattenseiten wie abhängig machen (Sucht), Toleranzentwicklung).

Was das Lesen von Büchern so gewinnbringend macht, ist m. E., dass man sich tiefer mit der Matererie auseinandersetzt als beim oberflächlichen Lesen von Online Artikel. Und wenn dann einige Aha Momente dabei sind, Hintergründe erfährt, Verknüpfungen und Zusammenhänge (und nicht nur Fakten nacheinander aufnimmt) erkennt, dann ist es noch zusätzlich bereichernd.
Am Dachboden habe ich viele Schachteln von Büchern, ich trenne mich auch ungern von ihnen. Meine Amazon Wunschliste ist lang, ich schätze 200 Bücher in 15 oder so Kategorien aufgeteilt. Zuviele Bücher, zuwenig Zeit, da muss man selektiv sein oder werden.
Dieter Kowalski 18.10.20 10:07
Bin ganz Ihrer Meinung, Bücher und Musik sind ein unverzichtbarer Bestandteil des Lebens, auch wenn ich Ihren Geschmack nicht ganz teile. Sie bilden und lehren uns Verständnis für anders denkende, sie unterhalten uns und bringen Menschen zusammen. Viele (junge) Menschen lesen leider keine Bücher mehr. Da gibt zuviel Ablenkung und digitale Überlastung um sich auf einen Roman oder gar ein Sachbuch von mehreren hundert Seiten Umfang einzulassen. Alle Informationen müssen heutzutage schnell und jederzeit zur Verfügung stehen. Jeder muss sofort auf jeden Furz eines anderen auf irgendeiner Socialmedia Plattform reagieren. Da bleibt keine Zeit für Bücher oder das bewußte anhören einer CD.
Wir leben im Zeitalter der Informationsüberflutung, und wenn sich daran nicht schleunigst etwas ändert, werden wir daran zu Grunde gehen.