Brutstätten für das Virus

Gefängnisse in Zeiten der Corona-Krise

Die Philippinen sind besonders berüchtigt für ihre überfüllten Zellen. Viele Gefangenen leiden unter Vorerkrankungen. Foto: epa/Mark R. Cristino
Die Philippinen sind besonders berüchtigt für ihre überfüllten Zellen. Viele Gefangenen leiden unter Vorerkrankungen. Foto: epa/Mark R. Cristino

KAIRO/BANGKOK/BOGOTÁ: Das neue Coronavirus hat auch den Strafvollzug erreicht. In Haftanstalten weltweit geht die Angst um vor einer Infektion mit Sars-CoV-2. Enge, schlecht belüftete Zellen könnten zu Brutstätten werden. Tausende Gefangene – vor allem solche, die wegen kleiner Delikte einsitzen – wurden deshalb vorzeitig freigelassen oder verbüßen ihre Strafen jetzt im Hausarrest. In Ländern mit schlechten Haftbedingungen kam es zu Krawallen und Fluchtversuchen, teilweise mit Verletzten und Toten.

Elf Millionen Häftlinge gibt es schätzungsweise auf der Welt. Viele von ihnen sitzen in überfüllten Gefängnissen oder haben wenig bis gar keinen Zugang zu Warmwasser, Seife und medizinischer Versorgung. „Körperlicher Abstand und Selbst-Isolation sind unter solchen Bedingungen praktisch unmöglich“, mahnte zuletzt Michelle Bachelet, UN-Hochkommissarin für Menschenrechte. Ihr Appell an Staaten weltweit in der Corona-Krise: „Vergesst nicht diejenigen hinter Gittern.“

Elf Länder, wo das Virus Häftlinge besonders hart treffen könnte:

In Ägypten sind die Gefängnisse laut Menschenrechtlern hoffnungslos überfüllt. Amnesty International zufolge sitzen dort derzeit Tausende Aktivis­ten, Journalisten und Regierungskritiker hinter Gittern. Gefangene berichten, dass Aufseher ihnen Seife oder Toilettenpapier wegnehmen. Gute Durchlüftung und Tageslicht gebe es selten, schreibt die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch. Mehr als 3.000 Menschen wurden nach Protesten im vergangenen September festgenommen.

Auch in Libyen werden Human Rights Watch zufolge Tausende willkürlich festgehalten. Dass inzwischen rund 450 Gefangene freigelassen wurden, um in überfüllten Einrichtungen etwas Platz zu schaffen, dürfte die Umstände kaum verbessern. Vor allem ein Covid-19-Ausbruch unter den Tausenden Migranten und Flüchtlingen, die in Internierungslagern einsitzen, hätte Experten zufolge verheerende Folgen.

Das Chikurubi-Gefängnis in Simbabwe etwa ist berüchtigt für eine chronische Überbelegung seiner Zellen. In dem Krisenstaat mit seiner Mangelwirtschaft wurden in der Vergangenheit nicht nur schlechte hygienische Verhältnisse kritisiert, sondern auch ein Mangel an medizinischer Versorgung. Soziale Distanz schließt sich dort wie in vielen anderen Haftanstalten auf dem Kontinent aus.

In der Türkei hat die Regierungspartei AKP ein Gesetz zur vorzeitigen Entlassung von bis zu 90.000 der insgesamt 300.000 Inhaftierten auf den Weg gebracht. Die Haftzeiten von Verurteilten im offenen Vollzug und Risikogruppen sollen wegen des Coronavirus in Hausarrest umgewandelt werden, etwa bei Inhaftierten ab 65 Jahren und Schwerkranken. Ausgenommen wären Gefangene, die etwa wegen Gewalt gegen Frauen, vorsätzlichen Mordes und Terrorverbrechen einsitzen. Wegen Terrorvorwürfen sitzen auch viele Journalisten und Regierungskritiker im Gefängnis und wären damit von der Regelung ausgenommen. Anwälte und Menschenrechtler kritisieren das scharf.

Im Iran – einem der vom Virus am stärksten betroffenen Länder – hat die Corona-Krise bereits zu einer Amnestie für 10.000 Gefangene und einem Hafturlaub für 85.000 Häftlinge geführt. Dabei geht es um Kleinkriminelle und einige politische Gefangene. Bis zu 25 Menschen teilen sich in der islamischen Republik eine kleine Zelle.

In Thailand sollen Gerüchte um einen Corona-Ausbruch Ende März einen Aufstand ausgelöst haben. Das Gefängnis in der Provinz Buriram im Nordosten war demnach so zerstört, dass 2.000 Häftlinge umziehen mussten. Laut Justizminister Somsak Thepsuthin gab es dort allerdings gar keine Infizierten, das Virus sei nur ein Vorwand für den Fluchtversuch gewesen.

Die rund 470 Gefängnisse der Philippinen sind laut dem Internationalen Komitee vom Roten Kreuz (ICRC) zu mehr als 530 Prozent belegt. Viele Gefangene leiden unter Vorerkrankungen wie Bluthochdruck, Herz- und Atemwegserkrankungen sowie Krebs oder Diabetes.

In Brasilien türmten über 1.300 Häftlinge aus dem halboffenen Vollzug, nachdem ihnen wegen des Coronavirus vorübergehend der Freigang gestrichen wurde. Die Behörden befürchteten, die Gefangenen könnten das Virus bei ihrer Rückkehr einschleppen. In dem südamerikanischen Land sitzen rund 710.000 Häftlinge in Gefängnissen mit einer Gesamtkapazität für etwa 415.000 Insassen.

In Kolumbien kam es mehrfach zu Meutereien und tödlichen Krawallen, weil Gefängnisbesuche wegen des Virus eingeschränkt wurden. Die Regierung prüft, bis zu 15.000 besonders gefährdete Gefangene in den Hausarrest zu entlassen – etwa über 60-Jährige oder Kranke. Auch in Kolumbien sind die Gefängnisse völlig überfüllt.

Die USA haben mit 2,3 Millionen Häftlingen die höchste Gefangenenrate weltweit. Mehrere Bundesstaaten erwägen dort, Insassen mit geringen Reststrafen freizulassen. Laut Justizminister William Barr sollen vor allem ältere Gefangene und solche mit Vorerkrankungen unter Hausarrest gestellt werden.

In Europa hat etwa Italien vorzeitig Häftlinge entlassen oder in Hausarrest geschickt. Das Land ist mit mehr als 105.000 Infektionen mit am stärksten vom Virus betroffen. Anfang März kam es dort zu Aufständen in 27 Haftanstalten mit mehreren Toten und Verletzten, nachdem wegen der Corona-Gefahr Besuche in Gefängnissen ausgesetzt wurden.

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