Stunde der Wahrheit oder verlängerte Hängepartie?

Foto: epa/Neil Hall
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LONDON/BRÜSSEL (dpa) - Alles sieht nach einer Niederlage aus für die britische Premierministerin Theresa May und ihren Brexit-Deal am Dienstag. Doch wie das Gezerre um den EU-Austritt enden wird, ist damit wohl noch lange nicht ausgemacht.

Der Brexit-Deal ist nach den Worten des konservativen Abgeordneten Mark Francois «dead as a Dodo» - so tot wie der ausgestorbene Vogel Dodo im Londoner Naturkundemuseum. Am Dienstag sollen die britischen Abgeordneten über das mit der EU ausgehandelte Austrittsabkommen von Premierministerin Theresa May abstimmen. Und alle meinen das Ergebnis schon zu kennen.

Die Chancen auf eine Mehrheit sind nicht gestiegen, seit May die Abstimmung im Dezember verschoben hat. Zu groß ist der Widerstand nicht nur in der Opposition, sondern auch in Mays konservativer Partei und bei ihren Verbündeten von der nordirischen DUP. Der Sender BBC geht davon aus, dass May 114 Stimmen fehlen.

Zwar versucht May Medienberichten zufolge, Abgeordnete von der Labour-Opposition mit kleineren Zugeständnissen auf ihre Seite zu ziehen. Labour fordert eine engere Anbindung an die Europäische Union als bisher vorgesehen. Doch dass es damit für einen Sieg bei der Abstimmung am Dienstag reicht, gilt als ausgeschlossen.

Auch in ihren eigenen Reihen darf sich May kaum Hoffnungen auf mehr Unterstützung machen. Die Forderungen der konservativen Brexit-Hardliner nach einer Aufweichung der Garantie für eine offene Grenze in Irland sind wegen des Widerstands aus Brüssel unerfüllbar.

Noch hofft sie wohl darauf, dass die Furcht vor einem drohenden Austritt ohne Abkommen in letzter Sekunde ihre Wirkung zeigt. «Der einzige Weg, "No Deal" zu verhindern, ist, für einen Deal zu stimmen», lautet ihr neuestes Mantra. Der ungeregelte Brexit wäre die automatische Folge, wenn sich das Parlament nicht bis zum Austrittsdatum am 29. März auf einen anderen Kurs einigt.

Als möglich gelten dafür neben dem Abkommen auch ein Aufschieben des Brexits oder ein Zurückziehen des Brexit-Antrags bei der EU. Einher gehen könnte das mit einer Neuwahl in Großbritannien oder einem zweiten Referendum - doch auch dafür zeichnet sich noch keine Mehrheit ab.

Wie es genau weitergeht, wenn das Abkommen am Dienstag durchfällt, ist schwer vorherzusagen. Großbritannien hat keine geschriebene Verfassung. Im EU-Austrittsgesetz ist festgelegt, dass die Regierung spätestens 21 Tage nach der Ablehnung dem Parlament darlegen muss, wie es weitergehen soll. Das Parlament hat diese Frist theoretisch auf drei Sitzungstage verkürzt - das wäre Montag, der 21. Januar. Aber es ist nicht klar, ob sich die Regierung daran halten wird.

Spätestens sieben Tage nach dem Vorlegen eines «Plan B» muss die Regierung laut Gesetz darüber abstimmen lassen. Das wäre nach derzeitigem Stand der 31. Januar. Die Abgeordneten hätten die Möglichkeit, diesen Plan B abzuändern. Doch auch hier ist unklar, ob die Regierung rechtlich gebunden wäre.

May könnte unterdessen versuchen, weitere Zusicherungen aus Brüssel einzuholen, Zugeständnisse an Labour zu machen und den Deal erneut zur Abstimmung stellen. Nach Ansicht von Experten könnte die Regierung die Entscheidung aber auch in das anstehende Gesetzgebungsverfahren verschieben, mit dem das Brexit-Abkommen in britisches Recht übertragen werden soll. Die Stunde der Wahrheit würde hinausgeschoben - immer näher an die Klippe, mit der das Austrittsdatum in Großbritannien oft verglichen wird.

Brüssel betrachtet das politische Wirrwarr in London mit großer Sorge, aber auch scheinbar reglos. Gebetsmühlenartig heißt es dort: «Der Ball liegt im britischen Feld.» Die Briten sehen das genau umgekehrt: Mit nur einigen wenigen Zugeständnissen ließe sich die No-Deal-Katastrophe noch abwenden.

Tatsächlich ist bei der EU weiter die Rede davon, dass man May helfen möchte. Ein Briefwechsel steht zur Debatte, in dem EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker und EU-Ratspräsident Donald Tusk weitere Zusicherungen machen könnten. Noch am Donnerstag bekräftigte Junckers Sprecherin, man «reflektiere» die Möglichkeiten. Doch sie betonte: «Dieser Deal ist der beste und der einzig mögliche. Er wird nicht neu verhandelt.»

So rechnen auch führende EU-Politiker damit, dass May am Dienstag eine Niederlage kassiert. Die Frage, die nun in Brüssel durchgekaut wird: Wie schlimm wird das Debakel? «Ich glaube, um hier noch konstruktiv weiter arbeiten zu können, ist es wichtig, dass die Niederlage nicht zu kräftig ausfällt», sagt CDU-Brexit-Experte Elmar Brok. «Wenn es 200 Stimmen Mehrheit dagegen sind, dann ist, fürchte ich, das Spiel beendet.» Seien es nur 80, wäre vielleicht ein «zweiter Aufschlag» möglich.

Nur was heißt das, das Spiel sei beendet? Die EU will sich vor dem britischen Votum nicht in die Karten schauen lassen, aber die Szenarien werden in Brüssel überall durchdekliniert: Großbritannien könnte eine Verlängerung der zweijährigen Austrittsfrist nach Artikel 50 der EU-Verträge beantragen, die die übrigen 27 Staaten einstimmig billigen müssten und wohl auch würden.

Diplomaten weisen aber darauf hin, dass dies wegen der Europawahl im Mai nur für wenige Wochen möglich sei, sonst müssten die Briten trotz der Austrittspläne noch einmal Abgeordnete wählen. Brok stellt zudem klar, dass London sehr gute und konkrete Gründe vorbringen müsste, etwa benötigte Zeit für Neuwahlen oder ein zweites Referendum.

Alternativ könnte Großbritannien seinen Austrittsantrag einseitig zurückziehen - und es womöglich einige Monate später noch einmal versuchen. Das Problem Europawahl bliebe: Als Mitglied müsste Großbritannien wieder Abgeordnete bestimmen.

Ohne Ratifizierung und ohne Verschiebung bliebe der «No Deal», aber auch hier sind verschiedene Varianten denkbar. So wird spekuliert, dass man die im Vertrag vereinbarte Übergangsfrist bis mindestens Ende 2020 auch ohne Ratifizierung in Kraft setzen könnte, um die schlimmsten Brexit-Folgen abzufedern. Oder dass man sehr kurzfristig noch Notvereinbarungen verhandeln könnte.

Brok wischt dies alles vom Tisch und nennt es «Fake». Ein «No Deal Agreement» beider Seiten «findet nicht statt», poltert der CDU-Politiker, der in der Brexit-Steuerungsgruppe des Europaparlaments stets in alle Erwägungen eingeweiht ist. «Man sollte nicht mit theoretischen Möglichkeiten arbeiten, die am Dienstag ein Alibi darstellen.»

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