Biden setzt Signal an Nato-Ostflanke

Moskau will Fokus auf Donbass

Joe Biden (M), Präsident der USA, spricht zu Mitgliedern der 82. Luftlandedivision in der G2A-Arena. Foto: Evan Vucci
Joe Biden (M), Präsident der USA, spricht zu Mitgliedern der 82. Luftlandedivision in der G2A-Arena. Foto: Evan Vucci

KIEW/RZESZOW: Ändert das russische Militär aufgrund der hohen Verluste seine Kriegsstrategie? Angeblich wollen sie sich nun auf die «Befreiung» des Donbass konzentrieren. In der Tat sei ein Vormarsch auf Kiew nicht mehr zu beobachten, meint das US-Pentagon.

US-Präsident Joe Biden ist am 30. Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine an die Nato-Ostflanke gereist und hat Kremlchef Wladmir Putin als Kriegsverbrecher beschuldigt. Nur 90 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt traf sich Biden am Freitag in der polnischen Stadt Rzeszow mit Staatsoberhaupt Andrzej Duda und machte sich ein Bild von der Lage der Kriegsflüchtlinge. Die Verwüstung in der Ukraine gehe «von einem Mann aus, den ich, offen gesagt, für einen Kriegsverbrecher halte», sagte Biden. Der russische Generalstab zeigte sich trotz Berichten über hohe Verluste und den stockenden Vormarsch zufrieden und will sich nun angeblich auf die «Befreiung» des Donbass in der Ost-Ukraine konzentrieren. Aus Deutschland trafen in der Ukraine weitere Waffen ein für den Kampf gegen die russischen Angreifer.

«Im Großen und Ganzen sind die grundlegenden Aufgaben der ersten Etappe der Operation erfüllt», sagte Sergej Rudskoj, Vizechef des russischen Generalstabs, der Agentur Interfax zufolge. Das Kampfpotenzial der ukrainischen Streitkräfte sei erheblich reduziert. Dies ermögliche es, die Hauptanstrengungen auf «das Erreichen des Hauptziels zu richten - die Befreiung des Donbass».

Nach Ansicht westlicher Militärexperten reagieren die russischen Streitkräfte mit der Darstellung auch auf die nach vier Wochen stockenden Vorstöße auf größere Städte wie Kiew und Charkiw.

Pentagon: Russen haben ihre Fähigkeiten überschätzt

Ein hochrangiger Vertreter des US-Verteidigungsministeriums sagte mit Blick auf die russischen Truppen: «Sie sind auf den Donbass konzentriert.» Ein Vormarsch auf die Hauptstadt Kiew sei derzeit nicht zu beobachten. «Sie graben sich ein, sie bauen Verteidigungspositionen auf.» Der Pentagon-Vertreter sagte weiter: «Offensichtlich haben sie ihre Fähigkeit, Kiew einzunehmen, überschätzt. Und offen gesagt haben sie ihre Fähigkeit überschätzt, irgendein Bevölkerungszentrum einzunehmen. Und sie haben den ukrainischen Widerstand eindeutig unterschätzt.»«

Putin hatte den Angriff am 24. Februar unter anderm mit der Begründung angeordnet, den als unabhängig anerkannten ostukrainischen Separatistengebieten Donezk und Luhansk beizustehen. Der Kreml behauptet, ukrainische Nationalisten verübten in der Region einen «Genozid» an der russischsprachigen Bevölkerung. Dafür gibt es keine Belege. Als weitere Ziele des Angriffs hat Moskau unter anderem benannt: ein neutraler Status der Ukraine, die «Entmilitarisierung» und «Entnazifizierung» des Landes sowie die Anerkennung der 2014 annektierten ukrainischen Schwarzmeer-Halbinsel Krim als russisch.

Russischer Generalstab will Putins Aufgaben erfüllen

Die «militärische Sonderoperation», wie Russland den Krieg nennt, werde fortgesetzt, bis die von Oberbefehlshaber Putin festgelegten Aufgaben vollständig erfüllt seien, sagte Rudskoj. «Ursprünglich hatten wir nicht geplant, (die großen Städte) zu erstürmen, um Zerstörungen zu verhindern und Verluste unter Soldaten und Zivilisten zu minimieren.» Dies sei aber nicht mehr ausgeschlossen.

Abwehrraketen, Maschinengewehr und Munition aus Deutschland

Bei den Waffen aus Deutschland, die in der Ukraine angekommen sind, handelt es sich um 1500 Luftabwehrraketen vom Typ «Strela» und 100 Maschinengewehre MG3. Hinzu kommen 8 Millionen Schuss Munition für Handfeuerwaffen. Wie die Deutsche Presse-Agentur weiter aus ukrainischen Regierungskreisen erfuhr, sind zudem weitere Hilfsgüter aus Deutschland für die ukrainischen Streitkräfte im Kriegsgebiet angekommen. Darunter sind 350.000 Esspakete, 50 Fahrzeuge für den medizinischen Transport und Material für die medizinische Versorgung.

Moskau veröffentlicht Zahl getöteter Soldaten

Erstmals seit dreieinhalb Wochen veröffentlichten die Russen Zahlen zu Verlusten ihrer Armee. Es seien 1351 russische Soldaten getötet und 3825 Soldaten verletzt worden, teilte der Generalstab mit. Experten gehen allerdings von mehreren Tausend toten russischen Soldaten aus, die Ukraine spricht von 16.000 getöteten russischen Soldaten. Auf ukrainischer Seite seien 14.000 Soldaten getötet und 16.000 weitere verletzt worden, hieß es aus Moskau. Die Ukraine selbst hatte zuletzt am 12. März von rund 1300 getöteten Soldaten in den eigenen Reihen gesprochen. Die Zahlen sind nicht überprüfbar.

Ukrainer sehen Rückzug russischer Truppen

Aus der Ukraine wurden auch in der Nacht zum Freitag heftige Kämpfe gemeldet. Im Nordosten zogen sich nach Angaben des ukrainischen Generalstabs aber einige russische Verbände hinter die Grenze zurück. Sie hätten hohe Verluste erlitten, teilweise mehr als die Hälfte ihrer Kräfte, hieß es. Die Angaben aus dem Kriegsgebiet waren nicht unabhängig überprüfbar. Allerdings bestätigten in den vergangenen Tagen auch US-amerikanische und britische Quellen, dass ukrainische Kräfte östlich und nordwestlich der Hauptstadt Kiew erfolgreiche Gegenangriffe unternommen hätten. Die westlichen Militärmächte beobachten das Geschehen mit Satelliten.

Lawrow wettert über «totalen Krieg» der Nato gegen Russland

Russland kündigte als Reaktion auf zusätzliche Truppen an der Nato-Ostflanke an, seine Truppen an der Westgrenze aufzustocken. Die Nato hatte wegen des Kriegs ihre Verteidigungspläne aktiviert und an der Ostflanke 40.000 Soldaten dem direkten Kommando des Bündnisses unterstellt. Moskau warf dem Westen vor, mit den Sanktionen Krieg gegen Russland zu führen. «Heute haben sie uns einen echten hybriden Krieg erklärt, den totalen Krieg», sagte Außenminister Sergej Lawrow.

USA wollen Europa mit riesigen Mengen Flüssiggas versorgen

In Brüssel vereinbarte US-Präsident Biden mit EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, dass Europa unabhängiger von Energielieferungen aus Russland werden soll. Die USA wollen in diesem Jahr mit internationalen Partnern 15 Milliarden Kubikmeter Flüssiggas (LNG) zusätzlich in die EU liefern. Langfristig solle die Menge auf 50 Milliarden Kubikmeter pro Jahr ansteigen, kündigten Biden und von der Leyen an. Damit könnte nach Kommissionsangaben etwa ein Drittel der derzeitigen Gasimporte aus Russland ersetzt werden. Die EU-Staats- und Regierungschefs hatten am Donnerstag bei ihrem Gipfel in Brüssel keine Einigkeit über eine grundsätzliche Absage an russische Energielieferungen gezeigt.

Habeck: Deutschland kann Abhängigkeit von Russland schnell verringern

Deutschland kommt nach Darstellung von Wirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne) voran auf dem Weg zu weniger Gas, Öl und Kohle aus Russland. «Deutschland ist dabei, seine Energieabhängigkeit von Russland in hohem Tempo zu verringern und die Energieversorgung auf eine breitere Basis zu stellen», heißt es in einem Papier des Ministeriums. Habeck sagte, mit Ende des Sommers und zum Herbst hin könne Deutschland komplett auf russische Kohle verzichten. Beim Öl erwarte er eine Halbierung der russischen Importe zum Sommer. Beim Gas könne es gelingen, bis zum Sommer 2024 bis auf wenige Anteile unabhängig von russischen Lieferungen zu werden.

Eine Viertelmillion ukrainischer Flüchtlinge in Deutschland

An den deutschen Grenzen wurde bis Freitag die Einreise von 253.157 Kriegsflüchtlingen aus der Ukraine registriert. Das teilte das Bundesinnenministerium mit. Die tatsächliche Zahl dürfte höher liegen, weil viele Ukrainer kein Visum brauchen und nicht überall kontrolliert wird. Nach Angaben des UN-Flüchtlingshilfswerks haben seit Kriegsbeginn mehr als 3,7 Millionen Menschen die Ukraine verlassen.

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