Belarus-Krise ruft Erinnerungen an 2015 wach

Das von der belarussischen Staatsagentur BelTA via AP zur Verfügung gestellte Handout zeigt Migranten, die sich auf den Weg zum Kontrollpunkt Kuznica an der belarussisch-polnischen Grenze machen. Foto: Oksana Manchuk
Das von der belarussischen Staatsagentur BelTA via AP zur Verfügung gestellte Handout zeigt Migranten, die sich auf den Weg zum Kontrollpunkt Kuznica an der belarussisch-polnischen Grenze machen. Foto: Oksana Manchuk

BRÜSSEL/BERLIN: Die EU wirft dem belarussischen Machthaber vor, Migranten organisiert an die EU-Außengrenzen zu schleusen und die Union so destabilisieren zu wollen. Bei manch einem werden Erinnerungen an die große Fluchtbewegung 2015 wach. Über Gemeinsamkeiten und Unterschiede.

Bilder von Not und Elend an den Grenzen, Politiker, die von der Wucht der Ereignisse überfordert scheinen: Wer auf die dramatische Lage an der belarussisch-polnischen Grenze schaut, könnte sich an das Jahr 2015 erinnert fühlen. Menschen harren bei Temperaturen um den Gefrierpunkt an einer EU-Außengrenze aus. Mehrere Todesfälle sind offiziell; wie viele im sumpfigen Wald an der polnischen Grenze unentdeckt sind, ist unklar. Die Europäische Union wirkt weitgehend unvorbereitet. Doch ist die Lage wirklich mit dem Jahr 2015 vergleichbar, als 1,1 Millionen Asylsuchende allein nach Deutschland kamen?

Vergleichbar nicht, sagt der Migrationsexperte Gerald Knaus von der Denkfabrik European Stability Initiative. Doch sieht er in den Ereignissen die «Folge eines Versagens, die richtigen Lehren aus 2015 zu ziehen» - nämlich, dass eine «humane Kontrolle» der Grenzen notwendig sei, um die Empathie der Menschen in Europa zu bewahren.

Ein offensichtlicher Unterschied zu 2015: Die Türkei ist nicht Belarus. So schwer sich die Europäische Union mit Präsident Recep Tayyip Erdogan und dessen teils aggressiver Rhetorik tut, die Türkei bleibt ein wichtiger Partner und ist zudem Nato-Mitglied. Dem belarussischen Machthaber Alexander Lukaschenko hingegen hält der Westen Wahlfälschung und eine skrupellose Unterdrückung der Opposition vor.

Nun wirft die EU Lukaschenko vor, Migration als Waffe einzusetzen. Tausende Menschen aus Ländern wie Syrien oder dem Irak warten auf eine Chance, illegal die Grenze zur EU zu überqueren - eingeflogen wurden sie wohl auf Geheiß Lukaschenkos. Besonders groß ist der Druck auf die Grenze zu Polen. Warschau reagiert mit Härte und einem Gesetz, das nach Ansicht von Kritikern gegen EU-Recht verstößt, weil es das Recht auf Asyl aussetze. Mit Kritik an der polnischen Regierung halten sich die EU-Kommission und andere europäische Staaten aber zurück.

Migration als Druckmittel, das ist für die EU nicht neu. Immer wieder haben Staaten zuletzt den Konflikt mit der Europäischen Union gesucht - und Migranten gezielt den Weg in die Staatengemeinschaft gewiesen. Marokko lockerte im Mai die Grenzkontrollen zur spanischen Nordafrika-Exklave Ceuta; Erdogan erklärte im Februar 2020 die Grenze entlang des Flusses Evros zu Griechenland für geöffnet. In beiden Fällen machten sich Tausende Migranten auf den Weg in die EU - die betroffenen EU-Staaten reagierten mit Härte, die EU billigte dies.

Um der großen Fluchtbewegung 2015 und 2016 zu begegnen, schloss die EU im März 2016 ein Abkommen mit der Türkei. Es sieht vor, dass Ankara gegen unerlaubte Migration in die EU vorgeht und Athen illegal auf die Ägäis-Inseln gelangte Migranten zurück in die Türkei schicken kann.

Im Gegenzug wollte die EU für jeden zurückgeschickten Syrer einen syrischen Flüchtling aus der Türkei aufnehmen und das Land finanziell bei der Versorgung der Flüchtlinge unterstützen. Auf den Ägäis-Inseln entstanden in der Folge Lager, in denen Migranten bis heute unter teils unwürdigen Bedingungen leben. Die scheidende Bundesregierung betrachtet das Abkommen als Erfolg: Es habe dazu beigetragen, dass viel weniger Menschen unerlaubt über das Mittelmeer kommen. Allerdings wird das Abkommen nach Ansicht des Migrationsforschers Knaus schon seit Frühjahr 2020 nicht mehr umgesetzt.

Knaus gilt als Architekt des EU-Türkei-Deals. Fragt man ihn, ob die heutige Lage mit der von damals vergleichbar sei, antwortet er mit einer Zahl: Über Belarus seien in diesem Jahr insgesamt in etwa so viele Menschen nach Deutschland gelangt wie im Oktober 2015 an einem Tag. Nach jüngsten Angaben der Bundespolizei waren es bis Mitte November 9549 unerlaubte Einreisen via Belarus. «Von den Dimensionen her ist das natürlich überhaupt kein Vergleich», sagt Knaus.

Doch falle die politische Reaktion völlig anders aus. Was damals eine radikale Position der AfD gewesen sei, sei heute Politik der gesamten EU: Frauen und Kinder mit Waffengewalt am Eintritt in die Europäische Union zu hindern.

«Wir haben uns Schritt für Schritt daran gewöhnt, dass Gewalt und Rechtsbruch als Mittel der Grenzkontrolle akzeptiert werden», sagt Knaus. Viele Regierungen in der EU hätten gemerkt, dass Brutalität einfacher sei als die oft mühsame Kooperation mit anderen Ländern. Allein: «Wenn man das Spiel der Abschreckung mit Lukaschenko gewinnen will, dann muss man bereit sein zu einer Brutalität mit tödlichen Konsequenzen, die alles Bisherige in den Schatten stellt.» Knaus spricht von der bislang «wohl schwersten moralischen Krise der EU an den Außengrenzen».

Er wirbt schon seit längerem für «Konzepte humaner Kontrolle», an denen die EU in den vergangenen Jahren gescheitert sei. Im Fall Belarus schlägt er die Kooperation etwa mit der Ukraine oder mit Moldau vor, ähnlich wie beim EU-Türkei-Abkommen. Von einem Stichtag an sollten die Asylverfahren aller Migranten, die über Belarus in die EU kommen, etwa in der Ukraine bearbeitet werden.

Zwar kam dazu bereits Ablehnung aus Kiew. Man müsse der Ukraine jedoch ein «wirklich großzügiges Paket der Unterstützung» anbieten, von dem diese selbst etwas hätte. Knaus verweist auf rund 1,5 Millionen Binnenvertriebene in der Ukraine, auf eine angeschlagene Wirtschaft und auf den Dauerkonflikt mit Russland. Sanktionen gegen den belarussischen Machthaber Lukaschenko sollten zugleich verschärft und die an der Grenze zu Polen befindlichen Migranten von den EU-Ländern aufgenommen werden.

Für den Politikwissenschaftler Olaf Kleist vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (Dezim) ist der EU-Türkei-Deal hingegen alles andere als eine Blaupause. Er entspringe einer «Politik im Krisenmodus, aus dem ein Dauerzustand geworden ist». Es gehe viel zu stark um die Abwehr Schutzsuchender, während das Recht auf Asyl auf der Strecke bleibe. «Die EU verlässt sich viel zu stark auf Drittstaaten, weil sie keine innenpolitischen Lösungen für den Umgang mit Migration findet», beklagt er.

«Die EU ist nur erpressbar, weil sie sich vor ein paar Tausend Flüchtlingen fürchtet und sich von Lukaschenko damit erpressen lässt», meint Kleist. «Wenn sie die Flüchtlinge einfach einreisen ließe, würde Lukaschenko bald aufgeben. Belarus selbst hat kein Interesse daran, auf die Dauer zum Transitland zu werden.» Polen müsse seine Grenzen öffnen und Deutschland solle sich dann auch an der Aufnahme beteiligen.

Ob es dafür in Deutschland und Europa Rückhalt gäbe, ist aber fraglich. Der geschäftsführende Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) jedenfalls plädierte zuletzt dafür, die Menschen, die jetzt im Grenzgebiet festsitzen, in ihre Herkunftsländer zurückzuschicken.

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