Erdgasförderung bringt Niederländer auf die Barrikaden

Symbolfoto in Lubmin, Deutschland: epa/Stefan Sauer
Symbolfoto in Lubmin, Deutschland: epa/Stefan Sauer

GRONINGEN (dpa) - Für die sonst oft so entspannten Niederländer ist das Maß voll. Ständige von der Gasförderung ausgelöste Erdbeben kosten die Menschen im Norden des Landes die Nachtruhe, die Nerven und treiben Risse in die Häuser. Gibt es für das menschgemachte Problem keine Lösung?

Im Norden der Niederlande liegen die Nerven blank, Wut mischt sich mit Verzweiflung. Die meisten Menschen liegen noch im Bett, als am vergangenen Mittwoch erneut die Erde bebt - bereits zum sechsten Mal dieses Jahr, aber deutlich heftiger als sonst. «Die Menschen sagen, dass es sich anfühlte, als ob ein Lastauto ins Haus krachte, sie fühlten einen Knall oder dachten, dass Einbrecher in die Wohnung kommen», berichtet die Zentralstelle für Erdbebenschäden in Groningen. Bereits über 900 Gebäudeschäden, oft Risse in Mauern oder beschädigte Decken, wurden binnen eines Tages nach dem Beben vom Mittwoch mit einer Stärke von 3,4 erfasst. Auslöser ist die Förderung von Erdgas, das von einem Segen zum Alptraum der Provinz wurde.

Dass eine drastische Reduzierung der Gasförderung nach einem ähnlich heftigen Beben im Vorjahr bereits beschlossen und eine Entschädigungsregelung für 100 000 gefährdete, beschädigte oder im Wert geminderte Häuser getroffen wurde, reicht den Menschen längst nicht mehr. «Tempo, Tempo, Tempo», rufen aufgebrachte Anwohner Innenministerin Kajsa Ollongren und Wirtschaftsminister Eric Wiebes entgegen, als diese am Tag nach dem Beben in der Ortschaft Westerwijtwerd eintreffen, wo das Epizentrum lag.

«Wir fühlen uns entsetzlich im Stich gelassen durch Den Haag», klagt ein Anwohner. «Uns ist klar, dass das nicht schnell genug geht und dass das nicht gut genug geht», räumt die Innenministerin ein. «Die einzige wirkliche Lösung ist, das Gas auf Null zu drehen», sagt der Umweltminister dem Kamerateam der örtlichen Zeitung.

Dabei hatte alles wie ein Märchen begonnen. Unerschöpflicher Reichtum lockte, als das Erdgas 1959 in dem Landstrich unweit von Deutschland entdeckt wurde. Es handelte sich um eines der größten Gasfelder der Welt, das die Niederlande nach Norwegen zum größten Erdgasproduzenten Europas machte. Der Staat verdiente binnen Jahrzehnten Milliarden - und stellte maximalen Gewinn vor die Sicherheit der Bevölkerung, wie der nationale Sicherheitsrat vor drei Jahren feststellte.

Was für Belastungen nun auf den Staat und die Bevölkerung zukommen, nahm König Willem-Alexander in der vergangenen Woche erst in Appingedam in Augenschein. In einem Viertel dort werden von 462 betroffenen Häusern 64 saniert und die 398 übrigen abgerissen und auf Staatskosten durch Neubauten ersetzt. «Wenn alles fertig ist, dann haben wir hier ein erdgasfreies und grünes Wohnviertel, das luftiger ist als das bisherige Viertel», verkündete die Regierung.

Die Empörung der Erdbebenopfer ist nachvollziehbar, aber auch der Umstieg auf erneuerbare Energien, den die Niederlande nun beschleunigt angehen müssen, löst örtlich gravierenden Protest aus. Ein Unternehmen, das mit dem Bau eines Windparks mit 45 Windrädern in der Nachbarprovinz Drenthe beauftragt war, zog sich nach massiven Drohbriefen aus dem Millionen-Projekt zurück. «Alles was Sie in 20 Jahen aufgebaut haben, werden wir sorgfältig zerstören», kündigten Unbekannte an, die nach Vermutung der Polizei zur Einschüchterung auch Asbest an einer Baustelle der Firma abkippten. Auch andere Windparkbauer wurden bedroht. Eine TV-Fahndung verlief ergebnislos.

Wie viele Windräder demnächst im Flachland im Norden der Niederlande stehen, ist für die Beben-Betroffenen im Groninger Umland vorerst wohl zweitrangig. Auch am Samstag und Sonntag sollte die Zentralstelle für Erdbebenschäden für sie ausnahmsweise geöffnet bleiben, um alle Meldungen neuer oder größer gewordener Risse in Häusern aufzunehmen. Die Minister aus Den Haag versprachen unterdessen binnen zwei Wochen einen Aktionsplan, um die Erdbebenproblematik schneller anzugehen.

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