Migranten sehen sich gefährdet und diskriminiert

Asyl-Urteil in USA  

«Für Asyl stehen», «Stoppt Title 42 jetzt», steht auf Plakaten von Migranten, die an einer Kundgebung gegen die Title 42 genannte Handhabe teilnehmen. Foto: Aimee Melo/dpa
«Für Asyl stehen», «Stoppt Title 42 jetzt», steht auf Plakaten von Migranten, die an einer Kundgebung gegen die Title 42 genannte Handhabe teilnehmen. Foto: Aimee Melo/dpa

TIJUANA: Das lange Warten schien für Tausende Migranten bald ein Ende zu haben: Die USA werden ihre Asylanträge nun aber doch vorerst nicht bearbeiten. Viele Menschen, die an der Grenze in Mexiko ausharren, fühlen sich diskriminiert - zumal Ukrainer anders behandelt werden.

«Schüsse!» Schnell verbreitet sich in der Migrantenherberge Ágape im mexikanischen Tijuana, dass in der Nähe schon wieder geschossen wird. Mit Angst im Gesicht laufen die Bewohner, darunter viele Kinder, in Richtung Eingangstor. Die Schüsse waren aus der anderen Richtung zu hören, wo das Grundstück an einen Friedhof grenzt - wie bereits zwei Abende zuvor, als eine Bewohnerin der Herberge in ihrem Zelt von einer Kugel verletzt wurde.

«Ich bin hier derselben Gefahr ausgesetzt wie in meinem Land», sagt Francisca, die mit ihrer sechsköpfigen Familie im Nachbarzelt wohnt. Die 48-Jährige ist seit fast eineinhalb Jahren in der Grenzstadt am Pazifik, wie sie erzählt. Ihre Heimat Honduras habe die Familie verlassen, nachdem Bandenmitglieder ihre zwei ältesten Söhne rekrutieren wollten. Sie und ihr Mann hätten sich dagegen gewehrt und seien beschossen, geschlagen und aus ihrem Zuhause vertrieben worden.

Die Familie wollte in den USA Asyl beantragen. Das im internationalen Recht wie auch im US-Gesetz verankerte Recht wird ihr aber verwehrt. Grund ist eine Regelung vom März 2020, als Donald Trump US-Präsident war. Die Title 42 genannte Handhabe sieht vor, dass Migranten ohne Papiere an der Grenze sofort abgewiesen werden, ohne auch nur einen Asylantrag stellen zu können. Begründet wird das mit der Pandemie.

Unter Trumps Nachfolger Joe Biden hatte die Gesundheitsbehörde CDC angekündigt, die Regelung abzuschaffen. Ein Bundesrichter entschied jedoch kurz davor, dass Title 42 vorerst in Kraft bleiben muss. Unter anderem würde dessen Ende einzelnen Bundesstaaten irreparablen Schaden durch Gesundheits- und Bildungskosten aufbürden, hieß es. Die Biden-Regierung hatte sich auf einen großen Andrang an der Südgrenze eingestellt. Die Zahl der unerlaubten Grenzübertritte war in den vergangenen Monaten ohnehin rekordverdächtig hoch.

In der Ágape-Herberge wuchs die Zahl der Bewohner zuletzt innerhalb von etwa zehn Tagen von rund 450 auf derzeit 610, wie Ulises Rentería - einer von nur zwei Mitarbeitern der kirchlichen Einrichtung - erzählt. Viele Bewohner kommen ihm zufolge aus mittelamerikanischen Ländern wie Honduras und Guatemala oder aus Haiti. Rund 70 Prozent stamme aber aus dem mexikanischen Bundesstaat Michoacán, wo schwer bewaffnete Drogenkartelle um Territorium kämpfen.

«Mit dieser politisch motivierten Entscheidung eines von Trump ernannten Richters wird Menschen weiterhin ihr legales und grundlegendes Recht verweigert, in den Vereinigten Staaten Asyl zu beantragen», kommentiert Marielena Hincapié, Chefin des National Immigration Law Center, die Gerichtsentscheidung.

Dem National Immigration Forum zufolge hat es einen großen Anstieg von wiederholten, unerlaubten Grenzübertritten Einzelner gegeben, weil Title 42 dafür keine Strafe vorsehe. Das spiele Schleusern in die Karten. Nach einem Bericht des Senders CBS wurden ab Oktober 2020 in zwölf Monaten etwa 12.000 unbegleitete Migrantenkinder an der Grenze aufgegriffen, die zuvor - meist mit ihren Eltern - abgewiesen worden waren. Unbegleitete Minderjährige werden unter der Biden-Regierung aufgenommen. Republikaner werfen dem Präsidenten eine Politik offener Grenzen vor.

Angesichts der aktuellen Pandemie-Lage hält das US-Justizministerium Title 42 für nicht mehr gerechtfertigt. Viele Migranten sehen das ähnlich. «Das ist nicht Gesundheitspolitik, das ist Rassismus», sagt ein haitianischer Redner bei einer Mahnwache für das Recht auf Asyl vor einem Grenzübergang in Tijuana. In der Ágape-Herberge sind laut Rentería alle dreifach geimpft.

Dass Title 42 in Kraft bleibt, ist für die Migranten auch deshalb schwer zu schlucken, weil sie sehen, dass für Ukrainer andere Regeln gelten. Tausende von ihnen sind vor dem Angriff Russlands zunächst nach Mexiko geflüchtet, um von dort in die USA zu gelangen - und werden reingelassen. Die USA wollen bis zu 100.000 Geflüchtete aus der Ukraine unter bestimmten Bedingungen aufnehmen.

Sie finde es ungerecht, dass Ukrainer in die USA dürften und Mittelamerikaner nicht, sagt die 28-jährige Key aus Honduras. Alle seien mit demselben Ziel gekommen: ihren Kindern eine bessere Zukunft zu bieten. Die studierte Buchhalterin ist nach eigenen Angaben mit ihrem Mann und den fünf und elf Jahre alten Söhnen vor Gewalt geflüchtet, nachdem zwei ihrer Cousins in Honduras ermordet wurden. Bei der fast fünf Monate langen Reise durch Mexiko habe die Familie Diskriminierung erfahren, auf der Erde geschlafen und tagelang nichts gegessen. Die Kinder seien dünn und depressiv geworden.

Solche Erfahrungen sind nicht selten. «Ich habe viele Menschen sterben sehen, als ich hierher gekommen bin», sagt Francisca. Um ein Haar wären ihre Söhne an einem Straßenrand entführt worden, sagt sie. Das bisschen vom Verkauf von Ohrringen und Süßigkeiten angesparte Geld habe sie für psychiatrische Behandlungen in einer Klinik ausgeben müssen - zuletzt nach der Schießerei, bei der sich ihre Zeltnachbarin verletzte.

Jetzt sind wieder Schüsse gefallen. Einige Dutzend Meter von der Herberge entfernt liegt die Leiche eines Mannes - wohl ein Opfer der Kämpfe verfeindeter Banden. Migranten wurden diesmal nicht verletzt. Dennoch sagt Francisca zitternd: «Hier ist es nicht sicher.»

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