Angriff des Generals

Libyen am Rande des nächsten Bürgerkriegs

Foto: epa/Etienne Laurent
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TRIPOLIS (dpa) - Wichtiger Öllieferant und Transitland für Flüchtlinge: Europa beobachtet mit Sorge das neue Chaos in Libyen. Der 75 Jahre alte Chalifa Haftar will das gesamte Land unter seine Kontrolle bringen.

Die Rede, die Libyen erbeben ließ, dauerte keine drei Minuten: «An unsere Armee, die vor den Toren von Tripolis stationiert ist», rief General Chalifa Haftar am Donnerstag ins Mikrofon. «Heute vollenden wir unseren siegreichen Marsch, den Marsch des Kampfes (...) Heute lassen wir die Erde unter den Füßen der Tyrannen beben.» Nicht nur die Worte waren deutlich, sondern auch das Ziel dieses Einsatzbefehles: die «Befreiung» der Hauptstadt Tripolis.

Mit dem Vormarsch der Truppen des Generals eskaliert in dem nordafrikanischen Land ein Konflikt, der seit Langem schwelt. Auf der einen Seite steht der 75 Jahre alte Haftar, ein berüchtigter Militär und einflussreichster Akteur Libyens. Dessen Gegner scharen sich auf der anderen Seite um die international anerkannte Regierung von Fajis al-Sarradsch, die in Tripolis sitzt - und ebenfalls ihre Kräfte mobilisierte. Beobachter wie Tarek Megerisi vom European Council on Foreign Relations sehen das Land am Rande des nächsten Bürgerkriegs.

Dabei sollte in diesem Monat endlich der Weg zu einer Lösung der langjährigen Krise geebnet werden. Für Mitte April hat UN-Vermittler Ghassan Salame zu einer Nationalkonferenz in die Stadt Ghadames geladen. Dort sollten die Konfliktparteien unter anderem über Wahlen beraten, um die sich die UN seit Langem bemühen. «Das ist ein Moment der Hoffnung», sagte UN-Generalsekretär Antonio Guterres erst vor einer Wochen in Tunis. Worte, die wenige Tage später hohl klingen.

Libyen hat in den vergangenen Jahren schon viele Vermittler der Vereinten Nationen verzweifeln lassen, darunter auch den Deutschen Martin Kobler. Seit dem Sturz von Langzeitherrscher Muammar al-Gaddafi 2011 ist das Land trotz vieler Versuche nicht zur Ruhe gekommen. Immer wieder brachen in verschiedenen Regionen Kämpfe aus. Kompliziert ist die Lösung des Konflikts nicht zuletzt, weil viele unterschiedliche Akteure um Einfluss und Pfründe buhlen.

Schon seit Langem ist die Macht gespalten zwischen der Regierung in Tripolis und einer zweiten im Osten Libyens, die mit Haftar verbündet ist. Der 75-Jährige inszeniert sich gern als Frontmann eines Bündnisses, das gegen islamistische und radikal-islamische Kräfte vorgeht. Zuletzt konnte er seinen Einfluss weit nach Westlibyen ausdehnen, ohne auf großen Widerstand zu treffen. In Scharara und Al-Fil übernahmen seine Anhänger auch zwei der wichtigsten Ölfelder - womit er fast die gesamte Erdölproduktion des Landes kontrolliert.

Dabei kann Haftar auf prominente internationale Unterstützung zählen: An seiner Seite stehen Russland, die Vereinigten Arabischen Emiraten (VAE), Ägypten und seit einiger Zeit auch Frankreich. Libyen-Experte Megerisi kritisiert, die internationale Gemeinschaft habe Haftars Machtausdehnung lange nur schweigend verfolgt. Angeführt von Frankreich hätten die meisten europäischen Regierungen geglaubt, ein neuer politischer Prozess könnte um den «wankelmütigen Feldmarschall» herum aufgebaut werden, schreibt er in einer Analyse.

Dabei haben Deutschland und Europa ein großes Interesse an Stabilität am südlichen Ufer des Mittelmeeres. Libyen gehört nicht nur zu den wichtigsten Öllieferanten der Europäischen Union. Das Land hat sich durch das Chaos in den vergangenen Jahren auch zu einem der wichtigsten Transitstaaten für Flüchtlinge auf dem Weg Richtung Norden entwickelt. Je größer das Chaos in Libyen, desto mehr Routen können sich dort für Schleuser und Migranten öffnen.

Haftar gilt für viele Beobachter bis heute als obskure und wendige Persönlichkeit, der nicht zu trauen ist. Jetzt träumt er davon, das Land unter seiner Führung zu vereinen. Einst kämpfte er für Gaddafi und stand in dessen Reihen, als dieser 1969 die Macht übernahm. Später aber überwarfen sich die beiden, Haftar landete im Tschad in Kriegsgefangenschaft und später über Jahrzehnte im Exil im US-Bundesstaat Virginia. 2011 kehrte er zurück und versuchte schon 2014 einen Umsturzversuch, der jedoch kläglich scheiterte.

Mit der neuen Operation wächst Haftars Gewicht. Ohne ihn ist keine Lösung in dem Krisenland möglich. Sein Vormarsch macht einmal mehr die Schwäche der Sarradsch-Regierung deutlich, deren Einfluss kaum über Tripolis hinausreicht. Sie ist abhängig von den Milizen, die sie unterstützen, aber häufig untereinander konkurrieren.

Libyen-Fachmann Megerisi weist zugleich darauf hin, auch Haftar sei nicht so stark, wie es den Anschein mache. Seine selbst ernannte Libysche Nationalarmee (LNA) sei letztlich nur eine «wackelige Allianz» lokaler Milizen: «Seine Kräfte sind überdehnt, seine Finanzen überbeansprucht, und er ist gezwungen zu kämpfen.»

Sollte sich Haftar aber dennoch für den Sturm auf Tripolis entscheiden, drohen lange, blutige Kämpfe. Denn die Gegenwehr in der Hauptstadt dürfte wesentlich größer sein als in anderen Regionen.

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