Polen und Ungarn kassieren erneut Niederlagen vor EuGH

​Am Pranger 

Flüchtlinge durchbrechen am 27.08.2015 die Absperrung aus Stacheldraht an der Grenze zwischen Ungarn und Serbien bei Röszke, Ungarn. Foto: Sandor Ujvari/Mti/dpa
Flüchtlinge durchbrechen am 27.08.2015 die Absperrung aus Stacheldraht an der Grenze zwischen Ungarn und Serbien bei Röszke, Ungarn. Foto: Sandor Ujvari/Mti/dpa

LUXEMBURG: Die Zahl der harten EuGH-Urteile gegen Polen und Ungarn steigt weiter. Vollziehen die Regierungen in Warschau und Budapest jetzt einen Kurswechsel? Die ersten Äußerungen nach den jüngsten Richtersprüchen lassen nichts Gutes befürchten.

Der Druck auf Polen und Ungarn wegen immer neuer Verstöße gegen EU-Recht steigt. Der Europäische Gerichtshof kassierte am Dienstag erneut umstrittene nationale Regelungen der beiden östlichen EU-Länder. Mit Blick auf Polen erklärten die Richter die Machtfülle des Justizministers für unvereinbar mit dem Prinzip der richterlichen Unabhängigkeit. Ein Urteil zu einer Klage gegen Ungarn stufte die Kriminalisierung von Flüchtlingshelfern als rechtswidrig ein.

Die EuGH-Entscheidungen dürften den seit Monaten eskalierenden Streit um die Rechtsstaatlichkeit in der EU zusätzlich verschärfen. Die Regierungen in Polen und Ungarn hatten dem EuGH bereits in der Vergangenheit mehrfach vorgeworfen, sich in unzulässiger Weise in nationalstaatliche Angelegenheiten einzumischen. Kritiker argumentieren hingegen, Polen und Ungarn müssten aus der EU austreten, wenn sie sich nicht an EuGH-Urteile halten wollten.

«Das heutige EuGH-Urteil ist ein weiterer Versuch, das Justizsystem in Polen zu destabilisieren», schimpfte Polens Vize-Justizminister Sebastian Kaleta am Dienstag. Die ungarische Regierung teilte zwar mit, sie werde das Urteil akzeptieren. Zugleich erklärte sie aber, sich das Recht vorzubehalten, weiter gegen die Aktivitäten von aus dem Ausland finanzierte Nichtregierungsorganisationen vorzugehen. Vor allem gegen deren Flüchtlingshelfer wenden sich die vom EuGH beanstandeten Regeln.

Wie es weiter geht, ist insbesondere im Fall Polens unklar. So hatte der EuGH das Land erst im Oktober zur Zahlung eines täglichen Zwangsgeldes in Höhe von einer Million Euro verurteilt, weil es ein früheres Urteil zu den umstrittenen Justizreformen nicht umgesetzt hat. Konkret ging es insbesondere um die Anordnung, die Arbeit der Disziplinarkammer zur Bestrafung von Richtern zu stoppen. Diese Tätigkeit ist nach früheren EuGH-Entscheidungen ebenfalls nicht mit EU-Regeln zur Unabhängigkeit der Justiz vereinbar.

Kurz davor hatte hingegen das polnische Verfassungsgericht erklärt, Teile des EU-Rechts seien nicht mit Polens Verfassung vereinbar. Diese Entscheidung wird von der EU-Kommission als höchst problematisch angesehen, weil sie der polnischen Regierung einen Vorwand geben könnte, ihr unliebsame Urteile des EuGH zu ignorieren.

Die für die Einhaltung von EU-Recht zuständige Brüsseler Behörde wirft der nationalkonservativen Regierung in Warschau schon lange vor, die Unabhängigkeit von Richtern zu untergraben und das Justizsystem entgegen EU-Standards umzubauen. Warschau signalisiert bislang allerdings in den entscheidenden Punkten kein Einlenken.

Zumindest bei Finanzangelegenheiten sitzt die EU-Kommission allerdings am längeren Hebel. So ist Polen der größte Netto-Empfänger in der EU. Strafzahlungen könnte die Kommission mit den milliardenschweren Auszahlungen aus dem EU-Haushalt verrechnen.

Derzeit versucht die EU-Kommission auch Ungarn mit scharfen Maßnahmen zum Einlenken bei der Beachtung von EU-Recht zu bewegen. Gerade erst beantragte die Behörde finanzielle Sanktionen gegen Budapest beim EuGH, weil Ungarn ein Urteil aus dem Dezember des vergangenen Jahres nicht ausreichend umgesetzt habe. Damals stellte der EuGH fest, dass ungarische Vorschriften über die Regeln und Verfahren in Transitzonen an der serbisch-ungarischen Grenze gegen EU-Recht verstoßen.

Manch einem Europaparlamentarier geht das allerdings noch nicht weit genug. «Die Feststellungen der Richter aus Luxemburg sind ein Weckruf an (die EU-Kommissionspräsidentin) Ursula von der Leyen: Europas Rechtsstaat steckt in einer Krise», kommentierte der Grünen-Politiker Daniel Freund am Dienstag. Mit Blick auf Polen forderte er, es dürfe «keine weitere Zahlung von EU-Geldern an die Regierung» geben.

Konkret ging es bei dem Urteil zu Polen um eine Regelung, wonach der Justizminister, der gleichzeitig Generalstaatsanwalt ist, Richter an Strafgerichte höherer Ordnung abordnen und eine solche Abordnung jederzeit beenden könne. Die Regelung führe dazu, dass die Richter während der Dauer ihrer Abordnung nicht über die Garantien und die Unabhängigkeit verfügten, über die ein Richter in einem Rechtsstaat normalerweise verfügen müsse, teilte der EuGH mit. Es sei nicht ausgeschlossen, dass die Regelung als Instrument zur politischen Kontrolle des Inhalts justizieller Entscheidungen eingesetzt werde.

Beim Ungarn-Fall ging es um das sogenannte «Stop-Soros-Gesetz» von 2018, benannt nach dem aus Ungarn stammenden US-Milliardär und Holocaust-Überlebenden George Soros, der seit Jahren Feindbild der rechtsnationalen Regierung in Budapest ist. Dem Gesetz zufolge droht Aktivisten und Mitarbeitern von Nichtregierungsorganisationen eine Strafe, wenn sie Migranten dabei helfen, einen Asylantrag zu stellen, obwohl die Schutzsuchenden nach ungarischem Recht eigentlich keinen Anspruch auf Asyl haben.

Die EuGH-Richter argumentierten unter anderem, dass Asylbewerbern so Unterstützung entzogen werde, die es ihnen ermöglichen würde, die Rechtmäßigkeit der ungarischen Regeln in einer späteren Phase des Asylverfahrens anzufechten. Zudem schrecke die Regel mögliche Helfer in hohem Maße ab. Sie gehe über das hinaus, was zur Bekämpfung betrügerischer und missbräuchlicher Verhaltensweisen, wie Ungarn sie im Sinne hat, nötig sei. Die fragliche Hilfe fördere weder die illegale Einreise noch den illegalen Aufenthalt eines Drittstaatenangehörigen in Ungarn.

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