ALLE LIEBEN MR JOHN

Fortsetzungsroman von Wolfgang Rill – Teil 9

(Fortsetzung von FA15/2022)

Was soll man da sagen?, denkt John. Alles Tröstende würde abgeschmackt klingen. Was würde es ihr helfen, wenn er sagte: Ich verstehe, ich verstehe dich gut. Trotzdem sagt er es.

Phoo ist noch nicht fertig. Sie krampft ihr Tüchlein in der Hand, es ist inzwischen ganz durchnässt. Mein Bruder taucht kaum noch auf, sagt sie. Inzwischen war er ein paar Monate im Gefängnis. Aber jedes Mal, wenn er kommt, sagt er zu mir dasselbe: Geh hin! Und meine arme Mama, die jetzt nur noch die Hühner und Schweine füttern und ein wenig den Garten bestellen kann, hat mich kürzlich an Phag erinnert. Sie wissen noch? Phag, eine meiner Freundinnen zu Schulzeiten, eigentlich meine beste.

John stellt sich Phag vor. Ein quirliges, lustiges Mädchen mit vor Begeisterung sprühenden Augen. Ein Springinsfeld, immer witzig, immer lachend, immer neugierig an allem inte­ressiert. Und, was ist mit Phag?

Phag ist schon drei Jahre hier weg. Sie war siebzehn, als sie ging.

Wohin ging sie denn?

Nach Koh Chang. Das ist eine Insel, kurz vor der Grenze nach Kambodscha. Viele Touristen dort.

Und was hat sie dort gemacht?

Sie sagt, sie hat da in einem Resort als room maid gearbeitet.

Und was ist daran schlimm?

Sie schickt seitdem an ihre Eltern monatlich zehntausend Baht. Oft mehr. Und einmal hat sie ihnen ein Baby gebracht. Das Mädchen ist jetzt bald zwei Jahre alt und lebt bei den Alten.

Mr John versteht. Eine room maid in Thailand verdient Mindestlohn. Das sind neuntausend Baht. Selbst wenn man davon ausgeht, dass sie im Hotel essen kann und Trinkgelder bekommt, muss sie doch einen room mit ein paar Kolleginnen mieten, was mindestens tausend Baht kostet, und ab und zu ein neues Kleid oder ein paar Schuhe, etwas Unterwäsche braucht sie auch. Ebenfalls Schminkzeug, Toilettenartikel, wenn sie mal Fieber hat ein paar Paracetamol und tausend andere kleine Sachen des täglichen Bedarfs. Für alles sind die neuntausend, die sie verdient, schon fast zu wenig. Wie soll sie dann noch zehntausend monatlich nach Hause schicken?

Mr John weiß, wie das gehen kann. Manche – der kleinen Phag traut er das zu – schaffen auch das Vierfache dieser Summe monatlich. Im Touris­tengebiet liegt der Preis für die Nacht zurzeit zwischen tausend und fünfzehnhundert Baht, was fünfundzwanzig bis fünfunddreißig Euro entspricht. Hinzu kommt noch der Anteil an der Bar Fine, die der Tourist am Tresen entrichten muss, wenn er sie auslöst. Und ein monatliches Festgeld von etwa dreitausend Baht gibt es von der Bar oben drauf, sowie Anteile an den sogenannten lady drinks, die das Mädchen dem Mann im Lauf des Abends aus den Rippen leiert. Da kann sie sich zur Erholung alle paar Tage sogar mal eine Nacht ohne Mann leisten, wenn sich kein passender findet. Aber so, wie John die lustige kleine Phag in Erinnerung hat, wird sich bei ihr immer einer finden.

Ich verstehe, murmelt Mr John. Leider verstehe ich das. Er weiß es aus Erfahrungen von damals in Phuket. Das war noch in einer anderen Zeit, in seiner alten Zeit. Es gibt robuste Mädchen. Die stecken die Nächte mit den Kerls scheinbar einfach so weg. Das Leben ist bunt, laut und fröhlich dort. Manche behaupten, es nach einer Weile sogar zu genießen. Aber sie verändern sich. Ihr Gemüt bekommt einen hammerharten Hieb und hat danach Schlagseite. Nicht umsonst sagen die erfahrenen Sextouristen: Es ist möglich, ein Mädchen aus der Bar herauszubekommen, aber niemals die Bar aus dem Mädchen. Bargirls begreifen sich selbst als Ware, als Ware und Verkäuferin in einer Person. Und als solche folgen sie den Gesetzen des Marktes. Die Ware muss sexy sein und gut präsentiert und beworben werden. Die Verkäuferin muss die Ware so teuer wie möglich im wahrsten Sinn des Wortes an den Mann bringen. Zu viele Gefühle stören. Lieben tut man seine Eltern und sein Kind. Der Rest ist Geschäft. Gefühle kann man spielen, was manchmal Spaß macht. Ungefährliche Gefühle wie Freude, Vergnügen, Freundschaft, Überschwang sind erlaubt. Die darf man tatsächlich haben, wenn sie die geschäftliche Berechnung nicht stören. Man kann so leben. Aber es gibt auch ein paar, die bringen sich um.

Was hat deine Mutter denn über Phag gesagt?

Sie hat gesagt, dass die Arbeit als Serviererin in einem Resort offenbar eine gut bezahlte Sache ist. Das hört sie immer wieder mal von Phags Eltern. Die wohnen nicht weit weg von uns. Mehr hat sie nicht gesagt. Mehr würde sie niemals sagen.

Und sie weiß, was das fast immer bedeutet: Serviererin in einem Resort?

Phoo wird ein wenig trotzig: Sie weiß es! Sie weiß es sehr genau. Aber sie würde mich niemals direkt hinschicken. Sie könnte das nicht aussprechen. Das kann sie nicht. Sie liebt mich. Sie liebt mich wirklich, so wie ich sie liebe. Aber sie ist verzweifelt. Sie weiß nicht, wie es weitergehen soll, und ich weiß es, ehrlich gesagt, auch nicht. Deswegen wünscht sie sich heimlich, dass ich von selber dorthin will. Sie würde mich dann gehen lassen, und sie könnte allen vorspielen, dass sie die Geschichte mit der Serviererin glaubt. Und wieder folgen ein paar Tränen.

Mr John beugt sich rüber, nimmt sie in die Arme und drückt sie ein wenig an sich. Nicht weinen, kleine Phoo. Nicht weinen. Ich weiß jetzt, was diese Computergeschichte für dich bedeutet. Wir werden etwas finden. Bestimmt. Wir finden etwas. Die schmalen Schultern in seinen Armen zucken. Er streichelt ihr über den Hinterkopf, über eine Schulter … Nicht weinen … Wir finden etwas … Wir finden bestimmt etwas.

* * *

(Fortsetzung in Ausgabe FA17/2022)

Über den Autor

Wolfgang Rill wurde in Fulda geboren. Heute lebt er zeitweise wieder dort, vorwiegend aber in Thailand. Seit dreißig Jahren schreibt er Geschichten und veranstaltet Schreibrunden für Interessierte. Seine Bücher sind bei Amazon unter „Wolfgang Rill“ bestellbar oder beim Autor erhältlich. „Alle lieben Mr. John“ ist sein siebter Roman.

Kontakt: wrill@t-online.de

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