ALLE LIEBEN MR JOHN

Fortsetzungsroman von Wolfgang Rill – Teil 8

(Fortsetzung von FA14/2022)

Aber er ist der Erste, der wirklich kommt, sagt sie. Sie habe auch schon mit anderen gechattet. Ein Engländer, der ganz lange geschrieben habe, sei plötzlich verstummt. Ein anderer, ein Italiener, wollte Nacktfotos von ihr, bevor er herüberkäme. Ein Mann aus Österreich habe ihr nach langem Chatkontakt gestanden, er sei eigentlich schon verheiratet und suche nur eine Freundin für den Urlaub. Mit dem hätte sie eine Südostasien-Rundreise machen können, danach aber nichts mehr. Und dieser hier, dieser Alfred, der habe wenigstens keine Schweinereien geschrieben, und er habe ihr Hoffnung auf eine Ehe gemacht, und er sei vielleicht doch ganz nett.

Was soll John da sagen? Sie sitzen eine Weile schweigend da, und auf eine Art werden sie in diesem Schweigen zu Komplizen. Ich bin nicht ganz überzeugt von dem Kerl, sagt John, aber wenn du unbedingt willst, versuch es.

Nachher sitzen sie wieder vor dem Bildschirm. John schreibt für sie einen freundlichen Text. Er schreibt Dinge, die dem fernen Alfred sicher köstlich in den Ohren klingen, die aber nicht zu direkt oder gar frivol sind. Das Ganze in einer Wortwahl, die auch von ihr stammen könnte. Natürlich müsse man sich erst mal treffen und miteinander reden. Aber wenn eine Sympathie entstehe, könnte natürlich mehr passieren, viel mehr. Und sie freue sich riesig auf das Treffen. Sie werde schon einen Tag vorher in Khon Kaen sein, bei einer Freundin schlafen, denn die Stadt sei über hundert Kilometer von Phung Daet weg, wo sie wohne, wie er ja wisse. Und ihre Mutter würde sich auch freuen, ihn bald kennenzulernen, wenn er länger bliebe.

Während Mr John das tippt und er nachträglich ein paar kleine Fehler in den Text hineinbaut und ein paar Wendungen noch einfacher ausdrückt, damit Alfred leichter versteht, hat er sich von Phoo abgewendet und ganz auf den Bildschirm konzentriert. Nur manchmal fragt er:

Verstehst du das, wenn ich es so schreibe.

Doch, doch, ich verstehe es. Es ist gut. Es ist sehr gut.

Er drückt auf Absenden und die Nachricht geht raus. Als er sich ihr wieder zuwendet, sieht er es feucht in ihren Augen glitzern.

Mr John, Sie sind so freundlich zu mir. Ich danke Ihnen sehr sehr viel. Sie wissen gar nicht, wie sehr Sie mir helfen.

John sieht sie fragend an.

Sie fasst sich ein Herz und sagt: Darf ich Ihnen etwas sagen? Aber es ist ein Geheimnis – a secret – und bitte sprechen Sie mit niemandem darüber.

John nickt.

Unter unterdrücktem Schluchzen beginnt Phoo:

Sie wissen ja, dass ich noch zu Hause wohne. Ich hatte in den letzten Jahren verschiedene Jobs. Mal Serviererin, mal Verkäuferin, einmal sogar im Vorzimmer bei einem Zahnarzt. Aber das fiel mir sehr schwer, ich konnte das nicht. Die vielen Fremdwörter am Computer, die nicht in unserer Schrift waren, die vielen Termine und Namen. Ich war einfach zu … zu … ungebildet. Das alles wäre trotzdem gegangen, hätte ich mit dem Doktor …, Sie wissen schon. Aber das konnte ich auch nicht. Er war verheiratet und hatte drei Kinder. Ich hätte seine Mia Noi werden sollen, seine jüngere Zweitfrau. Danach also wieder Verkäuferin an einem rollenden Imbissstand an der Straße, zwölf Stunden täglich für siebentausend Baht im Monat.

Das ist zweitausend Baht unter dem Mindestlohn, will John aufbegehren, aber er schluckt es herunter.

Zu Hause war schon zu meiner Schulzeit vieles schlimm. Ich will Ihnen keinen pag whan, keinen süßen Mund machen, aber glauben Sie mir: Die Stunden bei Ihnen damals in der Schule, das war für mich ein wenig Freude im Leben. Wie viel Spaß wir doch hatten! Wie schön es doch war, und wie lieb Sie zu uns waren.

Vielleicht habt ihr sogar ein bisschen Englisch gelernt, wirft John ein.

Ja, natürlich. Schon um Ihnen zu gefallen haben meine Freundinnen und ich abends zusammengesessen und englische Konversation geübt. Mal über das Essen, mal über die Liebe. Wenn eine von uns ein Thaiwort benutzt hat, musste sie einen halben Baht bezahlen.

Aber viel Zeit für diese Spielereien hatte ich nicht. Sie wissen vielleicht, dass mein Vater nicht mehr da war. Er war mit einer anderen Frau weggegangen, als ich sechs war. Er soll heute in Bangkok leben, aber das weiß ich nicht genau. Meine Großeltern, die damals noch lebten, waren uralt und konnten kaum noch arbeiten. Meine Mutter hatte Asthma und hustete viel. Sie arbeitete in einer Garküche. Mein älterer Bruder hatte ein Motorroller. Das war sein Ein und Alles. Oft war er für Tage verschwunden. Ich glaube, er hat irgendeine Droge genommen, und gestohlen hat er auch. Geld brachte er nie mit, nur Hunger. Wenn er sich bei uns vollgefressen und ausgeschlafen hatte, verschwand er wieder. Meine ältere Schwester war Krankenschwester geworden und arbeitete in Bangkok. Sie war die Einzige, die ab und zu etwas Geld schickte.

Wie oft hat Mr John nun schon solche und ähnliche Geschichten gehört. Die Kinder, denen es so ergeht, kommen meist nicht direkt aus der Stadt, sondern aus kleinen Weilern in der Umgebung. Da gibt es ein baufälliges Haus, eher eine Hütte, ein paar Hühner, ein paar Schweine in einem viel zu engen Koben und ein, zwei kleine Felder für Reis in der Nähe. Gekocht wird unter einem Bambusgestell mit Schindeldach über offenem Feuer im Freien. Gegessen wird Reis, Reis und wieder Reis. Der Boden besteht aus Lehm, die Betten aus Strohmatten, das Wasser, oft noch lehmig, wird mit Eimern aus einem Brunnen geschöpft.

Und heute?, fragt Mr John.

Meine Schwester kann nichts mehr schicken. Sie hat ein Kind bekommen, das behindert ist. Das Kind kostet alles, was sie hat. Auch ihr Mann ist weg. Und Mutter hat ihre Arbeit verloren. Sie hustet zu viel, das sei unhygienisch. Ihre Medikamente können wir nicht mehr bezahlen.

Phoo schweigt jetzt. Sie schaut auf den Boden. In ihrem Täschchen wühlt sie nach einem Tuch. Aber die Tropfen rinnen schon auf den Boden, bevor sie eins findet.

(Fortsetzung in Ausgabe FA16/2022)

Über den Autor

Wolfgang Rill wurde in Fulda geboren. Heute lebt er zeitweise wieder dort, vorwiegend aber in Thailand. Seit dreißig Jahren schreibt er Geschichten und veranstaltet Schreibrunden für Interessierte. Seine Bücher sind bei Amazon unter „Wolfgang Rill“ bestellbar oder beim Autor erhältlich. „Alle lieben Mr. John“ ist sein siebter Roman.

Kontakt: wrill@t-online.de

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