ALLE LIEBEN MR JOHN

Fortsetzungsroman von Wolfgang Rill – Teil 2

(Fortsetzung von FA09/2022)

Tin und Bla und Namtip, die drei Freundinnen, kommen gern zu Mr John. Bei ihm gibt es immer etwas zu lachen. Mr John nimmt nichts krumm. Die Mädchen kringeln sich, wenn er mal wieder erkältet ist, sein riesiges Taschentuch herauszieht, damit in der Luft wedelt und sich dann kräftig schneuzt. Danach muss er bestimmt gähnen. Viele andere Lehrer sind streng. Da muss man still sitzen, von der Tafel abschreiben. Mr John hat gar keine Tafel. Da, wo sie mal zu sehen war, hängen Blumentöpfe an Drähten. Mr John bringt mit ihrer Hilfe den Schülern bei, wie »Orchidee« und »Lotus« auf Englisch heißen. Außerdem die Wörter für »gießen«, »wachsen«, »blühen« und leider auch »austrocknen«, wenn wieder mal Ferien sind.

Man fragt sich, wie bei Mr John überhaupt etwas gelernt werden kann, wenn seine Stunden eher Freistunden sind oder Freizeitstunden. Die meisten Schüler können sich in Grüppchen unterhalten, ein Spiel spielen. Niemand muss über englischen Texten oder Vokabeln brüten, wenn er nicht will. Wenn mal wieder ein oberschlauer Erwachsener versucht, John Vorwürfe zu machen, dann sagt der: Was wollen Sie denn? Bei den anderen Lehrern lernen die Kinder doch auch nichts. Und schauen Sie: Die Schüler sind umgeben von Englisch. Die Hefte in den Regalen, die Plakate und Fototafeln an den Wänden, die Malbögen für die Kleinen und die Spiele für die Größeren, natürlich auch die Filme, meistens Dokus – alles auf Englisch. Sie können sich davon etwas nehmen und darin herumblättern oder es zu entziffern versuchen.

Und wenn sie sich nichts nehmen?

Dann würden sie auch nichts lernen, wenn man ihnen etwas vorsetzt und sie zwingt.

Erstaunlich, oder vielleicht gar nicht ganz erstaunlich, dass es mehr und mehr Kinder gibt, die mit dem Lernenwollen anfangen. Es dauert eine Weile, wenn sie neu sind. So eine Art Unterricht haben sie noch nicht erlebt. Sie können etwas machen, aber sie können auch nichts machen. Ist das nicht herrlich? Wie wäre es eigentlich, wenn man einfach mal etwas macht? Probeweise. Man könnte sich an so ein Memory-Spiel heranwagen. Zusammen mit der kleinen Joy, die man sowieso schon lange mal ansprechen wollte. Memory mit englischen Vokabeln. »Apple« und »orange« und so etwas. Da die Hauptbeschäftigung verboten ist, könnte man ja wirklich mal was anderes machen.

Bei dem im ganzen Land am wenigsten strengen Lehrer gibt es ein strenges Verbot. Ein einziges. Keine Handys! Dann sitzt man da, ohne Handy. Man fühlt sich nackt. Womit soll man sich beschäftigen oder besser betäuben? Ach ja, da sind ja diese Arbeitsbögen und Rätselhefte. Man kann es ja mal probieren. Probeweise …

Wenn man dann eine Weile gesessen hat, guckt man mal nach vorne, was eigentlich der Lehrer macht. Der sitzt an seinem Pult oder auf einem Schülerstühlchen oder auf dem Boden. Und er hat immer ein Grüppchen um sich, mit dem er sich unterhält. Die Schüler erzählen von ihren Erlebnissen im Städtchen oder in einem der Dörfer ringsum. Manchmal wird das ganz privat und ein bisschen peinlich. Aber Mr John hat so eine vertrackte Art, zuzuhören und nachzufragen.

Da bin ich doch heute schon wieder vom Polizisten Khun Khaen auf dem Schulweg angehalten worden, erzählt Khip, einer der Schüler. Er sagte, wenn wir schon zu viert auf dem Motorroller sitzen und alle keinen Helm tragen, soll ich wenigstens aufhören, beim Fahren zu telefonieren. Beim nächsten Mal muss er mir sonst einen Strafzettel verpassen. Macht der sowieso nicht.

So geht es eine Weile, bis das Erzählen und Übersetzen den Schülern zu anstrengend wird. Sehr belastbar sind sie nicht. Wenn die Sache das Spielerische verliert und in Arbeit ausartet, schnallen sie ab, wie man in Mr Johns Heimat sagt. Manche stehen dann auf und gehen in eine andere Ecke. Oder auch Mr John steht auf und gesellt sich zu einem anderen Grüppchen. Er muss aufpassen, dass er mal bei allen vorbeischaut. Die Kinder werden leicht eifersüchtig aufeinander.

* * *

Im Gegensatz zu anderen Farangs, die aus fernen Ländern kommen und unermess­lich reich sind, ist Mr John ein armer Hund. Er scheint tatsächlich nur von den fünfundzwanzigtausend Baht zu leben, die die Schulbehörde ihm genehmigt. Ein Thai könnte davon locker existieren, aber es ist selten, dass ein Farang mit so wenig auskommen muss. Doch wo kommen dann seine vielen Materialien her und die teuren elektronischen Geräte? Einen zweiten Beamer für die Schule wird es heute zum Beispiel geben. Er macht kein Geheimnis draus. Alle paar Monate kommt ein Pick-up aus Bangkok nach Phung Daet. Er fährt durch das Tor auf das große Sportgelände, das in Thailand vor jeder Schule zu finden ist, und hält dann an dem Flachbau, in dem die Klassenzimmer sind. Ein paar Kinder rennen runter und nehmen die Pakete in Empfang. Oben beginnt das Auspacken: Comicheftchen, Malbücher, Arbeitsbücher, Spiele und auch Lexika, die hier noch benutzt werden, da man in Google Translate ja nicht reingucken darf. Das Einräumen erledigen die Schüler selber, sie entscheiden, was wo hingehört. Mr John unterhält sich inzwischen mit dem Fahrer. Der ist offenbar ein Engländer, viel jünger als Mr John und das, was man auf Englisch »a smart lad« nennt, also ein cleverer und gut aussehender Bursche. Einige der Lehrerinnen an der Schule lugen gern mal um die Ecke, wenn der Pick-up unten steht, oder kommen ganz zufällig im Klassenzimmer vorbei.

Eine davon ist ganz besonders interessiert. Es ist Eule. Sie heißt so, weil sie mit ihrer kreisrunden Brille so aussieht. Die Brille hat einen dicken schwarzen Rahmen, hinter dem zwei listige, lustige geschlitzte und schräggestellte braune Augen blinken. Sie ist eine äußerst hübsche Eule. Außerdem hält sie seit Monaten an der Schule einen Altersrekord, sie ist nämlich die Jüngste. Unverheiratet, kinderlos, noch nicht mal geschieden. Selten, so etwas. Da können die anderen Kolleginnen kaum mithalten.

(Fortsetzung in Ausgabe FA10/2022)

Über den Autor

Wolfgang Rill wurde in Fulda geboren. Heute lebt er zeitweise wieder dort, vorwiegend aber in Thailand. Seit dreißig Jahren schreibt er Geschichten und veranstaltet Schreibrunden für Interessierte. Seine Bücher sind bei Amazon unter „Wolfgang Rill“ bestellbar oder beim Autor erhältlich. „Alle lieben Mr. John“ ist sein siebter Roman.

Kontakt: wrill@t-online.de

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