Europawahl: Abstürze und Höhenflüge

Foto: epa/Stephanie Lecocq
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BERLIN/BRÜSSEL (dpa) - Die Europawahl erschüttert die Regierungskoalition in Berlin. Auch auf europäischer Ebene war es für die Volksparteien kein guter Tag.

So wichtig wurde eine Europawahl wohl noch nie genommen. Im Europaparlament stehen nach den Wahlen turbulente Zeiten an. Aller Voraussicht nach werden zum ersten Mal in der jüngeren Parlamentsgeschichte Christdemokraten und Sozialdemokraten zusammen keine Mehrheit haben.

ÃœBERRASCHENDER IBIZA-EFFEKT: Kanzler Kurz profitiert

Vor allem Sozialdemokraten hatten gehofft, von den jüngsten Enthüllungen über rechtspopulistische FPÖ-Politiker in Österreich profitieren zu können. Nach ersten Zahlen haben sie allerdings vergeblich gehofft: Demnach gewinnt der frühere FPÖ-Koalitionspartner ÖVP von Österreichs Kanzler Sebastian Kurz bei der Europawahl deutlich hinzu, während die Sozialdemokraten nahezu unverändert bleiben. Und die FPÖ kommt trotz des Ibiza-Skandals bei nur vergleichsweise kleinen Verlusten auf ein zweistelliges Ergebnis. Der Skandal in Österreich war durch ein Video ausgelöst worden, das zeigt, wie der spätere Vizekanzler Heinz-Christian Strache (FPÖ) mit einer vermeintlichen russischen Investorin über eine Kooperation und möglicherweise illegale Parteispenden spricht.

HISTORISCHE ABSTÃœRZE IN DEUTSCHLAND

Für Annegret Kramp-Karrenbauer ist es der erste Wahlabend als deutsche CDU-Chefin. Und er beschert ihr einen Fehlstart. Nach den ersten Hochrechnungen sinkt die Union erstmals bei einer bundesweiten Wahl unter 30 Prozent. Die SPD fährt bei der Europawahl ein Rekordergebnis im negativen Sinne ein und fällt erstmals weit unter die 20-Prozent-Marke. In Bremen könnte auch die letzte ihrer Hochburgen fallen - nach 73 sozialdemokratischen Regierungsjahren. Die Grünen haben es erstmals bei einer nationalen Wahl auf Platz zwei geschafft, mit einem Rekordergebnis: Den ersten Hochrechnungen zufolge liegen sie bei über 20 Prozent. Für die rechtspopulistische AfD, die als einzige im Bundestag vertretene Kraft einen wirklich EU-kritischen Wahlkampf gemacht hat, geht es nicht weiter bergauf.

GROßE KOALITION IN EUROPA AM ENDE

Im Europaparlament bestimmte in den vergangen Jahrzehnten eine informelle Koalition der beiden großen Parteienfamilien das politische Geschehen und die Vergabe wichtiger Posten. Das dürfte nun vorbei sein. Schon bevor am Sonntagabend die letzten Wahllokale in den EU-Staaten schlossen, sah alles nach bitteren Verlusten für die Christdemokraten (EVP) und Sozialdemokraten (S&D) aus. Zum ersten Mal seit dem Start des Direktwahlsystems im Jahr 1979 wird demnach die informelle große Koalition keine Mehrheit erreichen. Um das Europaparlament handlungsfähig zu halten, werden sich EVP und S&D nun weitere Partner suchen müssen. Insgesamt dürfte die Abstimmung von Positionen dadurch deutlich komplizierter werden als sie es ohnehin schon war.

KEIN ECHTER RECHTSRUCK: Aber der Einfluss der Rechten wächst

Auf einen deutlichen Rechtsruck in der Politik deutet wenig hin. Parteien wie die deutsche AfD, die italienische Lega und der französische Rassemblement National (früher Front National) blickten zwar am Abend vergleichsweise guten Ergebnissen entgegen. Von einer Mehrheit sind sie allerdings meilenweit entfernt - selbst nach optimistischen Prognosen dürften rechtspopulistische, nationalistische und EU-kritische Abgeordnete nicht einmal 200 der 751 Sitze des Europaparlaments besetzen. Ob die Parteien die politische Arbeit des Parlaments bremsen können, wird viel davon abhängen, ob sie es schaffen, eine große Fraktion zu schmieden. Nur dann werden sie Anspruch auf wichtige Posten im Parlamentspräsidium und in den Ausschüssen erheben können.

DEUTSCHER EU-KOMMISSIONSCHEF: Alles noch möglich

Die Frage, ob der deutsche CSU-Politiker Manfred Weber Nachfolger von Jean-Claude Juncker als EU-Kommissionschef wird, wurde bei der Europawahl offiziell gar nicht entschieden. Das Vorschlagsrecht für diesen wichtigen Posten haben nämlich die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten. Aus Sicht des EU-Parlaments muss der Posten des Kommissionschefs allerdings mit einem der Spitzenkandidaten für die Europawahl besetzt werden. Und zu diesen gehörte Weber, dessen Parteienfamilie EVP trotz Verlusten mit Abstand stärkste Partei bleiben dürfte. Wenn Weber es schafft, nach der Wahl eine Mehrheit im Parlament zu organisieren, könnte er erster Deutscher an der Kommissionsspitze seit mehr als 50 Jahren werden.

BREXIT-WAHL: Der politische Todesstoß für Theresa May

Weil Großbritannien noch immer EU-Mitglied ist, durften die Briten wie alle anderen EU-Bürger an der Europawahl teilnehmen. Und viele von ihnen nutzten die Wahl als eine Art zweites Referendum über den Brexit und als Abstimmung über den Kurs von Premierministerin Theresa May. Letztere hatte bis zuletzt vergeblich versucht, eine parlamentarische Mehrheit für das mit der EU ausgehandelte Austrittsabkommen zu organisieren. Angesichts eines zu erwartenden Wahldebakels für ihre Tory-Partei kündigte May nun bereits am Freitag ihren Rücktritt an. Eine klare Antwort auf die Frage, wie es weitergehen soll, gibt das Ergebnis der Europawahl in Großbritannien aber nicht. Ersten Projektionen zufolge dürfte die EU-feindliche Brexit-Partei klar stärkste Partei geworden sein, insgesamt gesehen konnten aber pro-europäische britische Parteien im Vergleich zur Europawahl 2014 zulegen und vor den EU-skeptischen Kräften landen.

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