Dem Himmel so nah

La Palma ist Mekka für Astronomen und Sterngucker

Foto: Wikimedia/F. Acero, H. Gast
Foto: Wikimedia/F. Acero, H. Gast

SANTA CRUZ DE LA PALMA (dpa) - Sternenzauber pur: Wohl kaum irgendwo in Europa ist der Nachthimmel so dunkel wie auf den Kanaren. La Palma schützt ihn mit einem Gesetz - auf der Insel forschen Astronomen aus aller Welt mittels riesiger Teleskope. Eine Kerze und Babyshampoo spielen dabei eine Rolle.

Steil geht es mehrere Stunden über Haarnadelkurven in die Höhe, bis die Wolkendecke durchbrochen ist. Als die Baumgrenze schon lange erreicht ist und das Auto an surreal anmutenden roten Felswänden entlang dem Roque de los Muchachos zustrebt, tauchen auf Hügeln seltsame Gebilde auf. Weiße und silberne Kugeln, daneben kuriose Stahlkonstruktionen mit gigantischen Spiegeloberflächen. Sind Außerirdische gelandet? Das nicht, aber immerhin wird hier, auf der Kanareninsel La Palma, nach ihnen gesucht.

Die Luft ist kristallklar, der Himmel leuchtet in tiefem Dunkelblau. «Wie eine Exkursion zum Mond», schwärmt eine deutsche Urlauberin, die eine Besichtigung des weltberühmten Observatoriums gebucht hat. Kaum ein anderer Ort in Europa ist bei Astronomen und Hobby-Sternguckern so beliebt wie die zu Spanien gehörende Inselgruppe im Atlantik, und hier speziell Teneriffa und die kleinere Schwester La Palma.

Aber warum ist der Himmel über der vor der Nordwestküste Afrikas gelegenen Insel so extrem klar? «Die Wolkenschicht wird hier in 700 bis 1.500 Metern Höhe geformt, was mit den aus Nord-Ost wehenden Passatwinden zu tun hat», erklärt die Astronomin Elena Nordio, die seit acht Jahren auf La Palma lebt und Gästen aus aller Welt Sterne, Planeten und Galaxien näherbringt. Die Wolken schaffen es meist nicht, den massiven Gebirgszug der Cumbres, der das herzförmige Eiland längs durchzieht, zu überwinden. Die Folge: Regen auf der Ostseite und strahlende Sonne im Westen.

Der höchste Punkt des Gebirges, der Roque de los Muchachos, ist mit seinen 2426 Metern Höhe sowieso immun gegen die Wolken. Wie ein riesiges Schneefeld liegen sie tief unten über der Ostseite, während ihre Ausläufer ungestüm versuchen, die Felsenlandschaft zu überwinden. Chancenlos, sie lösen sich auf, bevor sie ihr Ziel erreichen.

Von Luftunruhen ungetrübt ist der Himmel hier so sauber und rein, dass er nur an weit entfernten Orten wie Chile oder Hawaii ein Pendant findet. Das Maß der Bildunschärfe durch Luftunruhe, das so genannte «Seeing» (Sehen), gehört zu den besten der Welt. Von gutem Seeing spricht man bei Werten unter 1. «Auf La Palma wird häufig ein noch viel niedrigerer Wert erzielt, die Sicht ist dann fast so klar wie im Weltraum», sagt Nordio.

Zudem gibt es kaum nennenswerte Industrie und auch keine Großstadt - und somit wenig Lichtverschmutzung. Kein Wunder also, dass der Roque de los Muchachos als Standort für «eine der umfangreichsten Teleskopflotten der ganzen Welt» ausgewählt wurde, wie auf der Webseite der Sternwarte zu lesen ist.

Imposante Teleskope reihen sich auf den Hügelketten aneinander, jedes anders, jedes einzigartig. Erschaffen und betrieben von Experten aus vielen Ländern, die ferne Planeten, Schwarze Löcher, Supernovae und sonstige Himmelsphänomene erforschen. Dazu gehören mehrere Gammastrahlen-Teleskope, die aussehen wie kolossale Satellitenschüsseln, deren zahlreiche Einzelspiegel die karge Landschaft reflektieren.

Der Prototyp einer neuen Generation dieser sogenannten Tscherenkow-Teleskope wird gerade gebaut und soll im Herbst eingeweiht werden. Er ist Teil des geplanten CTA-Observatoriums, dessen zweiter Standort die Paranal-Anlage in Chile ist. Sein Durchmesser beträgt 23 Meter, die gesamte Spiegelfläche umfasst etwa 390 Quadratmeter. Mittels großer Baugerüste und Kräne werden derzeit die letzten Spiegel montiert.

Sie sollen die sogenannte Tscherenkow-Strahlung auffangen und bündeln, die erzeugt wird, wenn hochenergetische Gammastrahlen aus dem All auf die Atmosphäre treffen. Mit dieser Methode lassen sich energiereiche Objekte im Universum untersuchen. Forscher erhoffen sich Einblicke in Phänomene wie gewaltige Explosionen und Kollisionen von Sternen und anderen Himmelskörpern.

Wie Raumkapseln wirken dagegen das «Nordic Optical Telescope» mit einem Spiegeldurchmesser von 2,6 Metern, das italienische «Telescopio Nazionale Galileo» mit einem 3,6-Meter-Spiegel und das «William Herschel Teleskop» - mit einem Primärspiegel von 4,2 Metern das zweitgrößte des Observatoriums. Hauptattraktion ist das «Gran Telescopio Canarias» (GTC). Mit 10,4 Metern Durchmesser handelt es sich um das größte optische Infrarot-Spiegelteleskop der Welt. Der Primärspiegel besteht aus 36 sechseckigen Segmenten aus Zerodur, einer Glaskeramik des deutschen Herstellers Schott in Mainz.

Demnächst wird das GTC seinen Status verlieren, denn in der Atacama-Wüste von Chile wird es einen neuen Superlativ geben, ein geradezu gigantisches Auge zum Himmel: Das «Extremely Large Telescope» (ELT) mit einem Hauptspiegel von spektakulären 39 Metern wird aber voraussichtlich erst 2024 eingeweiht. So lange hält La Palma wohl seinen Rekord.

Beim Eintritt in den unteren Bereich des «Gran Telescopio Canarias» arbeiten Techniker, Ingenieure, Informatiker und Astronomen in Büroräumen an langen Reihen von Computern. Die Forscher werten hier die Daten aus, die das Teleskop ihnen nachts liefert. Wenn es dunkel wird, öffnet sich die silberne Kugel wie ein Schlund, der gierig Nachrichten aus dem Weltall aufsaugt.

«Es ist, als ob sich ein Fenster zum Universum auftut», haucht eine Besucherin. Mit blauen Schutzhelmen steht die Touristengruppe in der Kuppel, deren futuristische Metallstruktur in sieben Jahren mit 16.000 Schrauben und 43.000 Muttern zusammengefügt wurde. Gesamtpreis des Baus: 130 Millionen Euro. Das Teleskop selbst sieht aus wie eine überdimensionale Fliege.

Um zu verstehen, wie akribisch und punktgenau es in den Kosmos schaut, zieht Elena Nordio einen Vergleich heran: «Man könnte von hier aus das Licht einer einzelnen Kerze in New York sehen», sagt sie. Dann folgt eine Anekdote: Gesäubert werde das empfindliche Gerät mit Baby-Shampoo, verrät die Expertin.

Auch andere Kanareninseln sind bei Himmelsforschern heiß begehrt. So hat die Europäische Raumfahrtagentur (ESA) schon mehrfach auf Lanzarote Simulationen für künftige Landungen auf anderen Planeten durchgeführt. «Astronaut meets Volcano», umschrieb die ESA ihre Mission. Warum gerade Lanzarote? Experten gehen davon aus, dass die geologischen Gegebenheiten denen auf dem Mars ähneln.

Aber zurück nach La Palma. Die bislang wichtigste Errungenschaft des GTC war 2016 der tiefste Einblick in eine ferne Galaxie, der von der Erde aus erreicht wurde - 500 Millionen Lichtjahre von unserem Planeten entfernt. «Aber es gab viele relevante Entdeckungen, wie etwa die von Schwarzen Löchern oder von Planeten, die nicht unserem Sonnensystem angehören», erläutert Nordio. «Die Astronomen hoffen, ein besseres Verständnis für die Anfänge unseres Universums und die Bildung der ersten Atome und Moleküle zu bekommen - und vielleicht sogar Leben auf anderen Planeten zu finden.»

Als die Besucher weg sind, erinnert sich die Italienerin an ihre eigene erste Begegnung mit dem leuchtenden Firmament über der Insel. «Es war eines der ersten Male, dass ich mit bloßem Auge die Milchstraße gesehen habe. Das war etwas ganz Besonderes.» Einen Himmel wie den von La Palma habe sie zuvor noch nie gesehen. «Viele Touristen kommen extra deshalb her, der hiesige Nachthimmel ist zu einem Symbol geworden - und Astro-Tourismus wird immer populärer.» Auch deutsche Sterngucker kämen in Scharen, wegen des milden Klimas speziell in den Wintermonaten zwischen Oktober und März.

Um eine freie Sicht auf die Sterne ohne Lichtverschmutzung zu gewährleisten, wurde 1988 ein Himmelsgesetz (Ley del Cielo) erlassen, das weltweit erste. Unter anderem wurde die weiße Straßenbeleuchtung durch spezielle orangefarbene Natrium-Lampen mit reduzierter Intensität ersetzt. Sie strahlen auf den Boden statt in den Himmel. Auch Leuchtreklamen sind strengen Kontrollen unterworfen. «Vor einigen Jahren haben sie am Ortseingang von Santa Cruz de la Palma einen Brunnen gebaut, der nachts angestrahlt wurde. Die Proteste waren so groß, dass er gleich wieder abgerissen werden musste», erinnert sich Thomas Schmid, der seit 30 Jahren hier lebt.

Im April 2012 wurde La Palma als erste «Starlight Reserve» der Erde anerkannt. Das geschützte Gebiet umfasst die gesamte Insel sowie Teile des Meeres. Die himmlischen Attraktionen sind inzwischen allseits präsent: Mehr als ein Dutzend «Miradores astronómicos» - astronomische Aussichtspunkte - wurden in den vergangenen Jahren eingerichtet, die über Straßen oder Wanderwege zu erreichen sind.

Jeder «Mirador» befasst sich mit einer eigenen Thematik und bietet Erläuterungen etwa zu Sternbildern, dem Mond, den Äquinoktien (Tagundnachtgleiche) oder dem Solstitium (Sonnenwende). Scheiben mit Sternenkarten können so gedreht werden, dass die Position des Polarsterns oder des Großen und Kleinen Bären sichtbar werden. «Polaris - 4.077.487.635.167.800 Kilometer», steht auf einem Wegweiser. Eine Zahl, die die unermesslichen Maßstäbe des Kosmos ins rechte Licht rückt.

«Die Menschen suchen gerade heute nach dieser Verbindung zum Kosmos und wollen das Universum besser verstehen», sagt Nordio. «Wir sind alle Träumer und wollen an etwas Größeres glauben als nur an unseren eigenen Planeten.» Die allerhäufigste Frage ihrer Gäste sei: Sind wir alleine im Universum?

Wie sie selbst darüber denkt? «Das Universum ist groß, es muss andere Lebensformen geben», lächelt die Astronomin. «Aber wir haben keinen Beweis dafür. Noch nicht.»

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