31-Jähriger klopft ans Kanzleramt

Foto: epa/Christian Bruna
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WIEN (dpa) - Mit beiden Händen ergreift Katica Gigovic den ausgestreckten Arm von Sebastian Kurz. «Sie sind mein Favorit. Sie sind mein Mann», ist die 61-jährige gebürtige Serbin ganz beseelt von der Begegnung mit dem Spitzenkandidaten der konservativen Österreichischen Volkspartei (ÖVP). Ihre ganze Familie werde den 31-Jährigen wählen.

Er sei so «ambitionell», kreiert sie ein neues Wort für jemanden mit Zielen. «Super!», bedankt sich Kurz artig bei der Arbeiterin, die seit 33 Jahren an der Werkbank sitzt. Höflich, zugewandt, interessiert auch im besonders knappen Small Talk will Kurz auf seiner Wahlkampf-Station beim Familienunternehmen EVVA, einem Spezialisten für Schließsysteme und Zutrittskontrollen, wirken.

Ausnahmsweise geht es einmal nicht um Migranten, Balkan- und Mittelmeerrouten, sondern um Standortpolitik. Die Firma produziert mit 460 Mitarbeitern mitten im Wiener Arbeiterbezirk Meidling ihre weltweit eingesetzten Schlösser. Meidling - da wohnt auch Kurz, ein Heimspiel für ihn. Er hat sich bisher erfolgreich als kraftvoller Veränderer positioniert, der auch in der Steuer- und Sozialpolitik vieles anders machen will.

Wenige Tage vor der von den Kandidaten zur Richtungsentscheidung erklärten Parlamentswahl in Österreich am 15. Oktober läuft es rund für die ÖVP. Zur Wahl tritt sie mit frischem Look (Türkis statt Schwarz) und neuem Namen an: «Liste Sebastian Kurz - die neue Volkspartei (ÖVP)».

Sollte Kurz tatsächlich die Wahl gewinnen, und alle Umfragen sprechen bisher dafür, gründet sein Erfolg auf zwei Leistungen: Er hat mit großer Konsequenz seinen zuwanderungskritischen Kurs beibehalten. Und er hat die in der Öffentlichkeit ziemlich abgetakelte ÖVP praktisch über Nacht in eine schicke «Bewegung» umgewandelt. Statt alter Parteigranden rangieren auf den Top-Plätzen der Bundesliste nun politische Quereinsteiger - vom Mathematikprofessor, über die Organisatorin des Wiener Opernballs bis hin zur querschnittsgelähmten Ex-Stabhochspringerin Kira Grünberg.

Österreichs Sozialdemokraten (SPÖ) höhnten über «politisch unbedarfte QuereinsteigerInnen». Bliebe die Frage, «welche politischen Konzepte eine Miss Burgenland, eine Ex-Miss Austria oder eine Weinkönigin einbringen können», feixte der damalige SPÖ-Bundesgeschäftsführer Georg Niedermühlbichler.

Diese Funktion hat der Mann nicht mehr inne. Denn die Sozialdemokraten von SPÖ-Chef und Kanzler Christian Kern stecken in einer Mega-Krise. Seitdem Medien enthüllt haben, dass aus den Reihen der SPÖ eine Schmutzkampagne mittels Fake-Facebook-Seiten gegen Kurz lanciert wurde, ist das Land in Aufruhr und die SPÖ unter Dauerfeuer. Niedermühlbichler trat sofort zurück. Kern ging zum Gegenangriff über und unterstellte, die ÖVP sei möglicherweise zumindest zeitweise selbst in die Affäre verstrickt gewesen.

Den 51-jährigen Kern umweht eine gewisse Tragik. Der ehemalige Chef der Österreichischen Bundesbahnen - vor 17 Monaten als Hoffnungsträger für den glücklosen Werner Faymann an der Spitze der Partei sowie der Regierung aus SPÖ und ÖVP installiert - ist ein kluger, kompetenter Kopf. «Veränderung mit Verantwortung», der SPÖ-Slogan trifft seine Grundhaltung perfekt und will die forsche Kurz-Ansage «Zeit für Neues» konterkarieren. Doch der rot-schwarze Alltag in der Regierung und zahllose Wahlkampfpannen mit dem Höhepunkt der Facebook-Affäre haben ihn sichtbar beschädigt.

Die anderen Parteien reiben sich angesichts der Selbstdemontage der SPÖ und der aktuellen Konflikte Augen und Hände. Insgesamt 16 Parteien treten am 15. Oktober an. Sechs haben die Chance, die Vier-Prozent-Hürde zu überspringen. Neben SPÖ und ÖVP sind das die rechte FPÖ, die Grünen, die liberalen Neos und der Ex-Grüne Peter Pilz mit einer eigenen Liste.

Der Wahltag könnte für FPÖ-Chef Heinz-Christian Strache den Grundstein zum ersehnten Karrieresprung auf den Job als Vizekanzler legen. Österreichs Rechtspopulisten haben ihren Anti-Ausländer- und Anti-EU-Kurs gemäßigt und sich mit einem Wirtschaftsprogramm breiter denn je aufgestellt. Das Signal: Wir sind regierungsfähig. Für viele scheint klar, dass die Truppe um den gelernten 48-jährigen Zahntechniker als Bündnispartner künftig gebraucht wird. Ihre Koalitionsbedingung lautet: Mehr direkte Demokratie wagen.

Der 63-jährige Pilz, 31 Jahre lang einer der prominentesten Grünen in Österreich und sogar einmal ihr Chef, der sich vor allem einen Namen als Aufdecker von Korruption gemacht hat, ist eine der schillernd-attraktiven Figuren des Wahlkampfs. Mal dozierend, mal offensiv, mal humorvoll hinterließ der als «Linkspopulist» titulierte Mann Eindruck bei den TV-Debatten. «Ich will nicht mit Strache, ich will seine Wähler», beschrieb der studierte Volkswirt seine Linie. Pilz hatte dafür geworben, die Grünen näher an die Stammtische zu rücken. Im Sommer unterlag er bei der Aufstellung der Bundesliste einem Konkurrenten - und zieht nun als Ex-Grüner durchs Land, der Zuwanderung kritisiert und zugleich für Erbschaftssteuer sowie andere linke Pläne ist.

Die Grünen wittern trotz der Konkurrenz durch Pilz im Endspurt plötzlich Morgenluft. Beflügelt vom soliden Ergebnis der deutschen Schwesterpartei bei der Bundestagswahl und dem aktuellen SPÖ-ÖVP-Duell könnten sie besser abschneiden, als es die laut Umfragen mageren fünf Prozent andeuten. Beharrlich warnt Spitzenkandidatin Ulrike Lunacek (60) vor einer Regierungsbeteiligung der «Blauen», also der FPÖ. Die liberalen Neos mit dem quirligen Parteichef Matthias Strolz (44) zittern bei vorhergesagten fünf Prozent um den Einzug ins Parlament.

Einen Platz im europäischen Geschichtsbuch hätte die Wahl im Fall eines ÖVP-Sieges und erfolgreicher Koalitionsverhandlungen sicher: Kurz, dessen Jura-Studium seit vielen Jahren zugunsten der Politik auf Eis liegt, wäre der jüngste Regierungschef in der EU.

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