2000 Migranten auf Lampedusa

Verdrängte Fragen in Berlin und Brüssel Von Anne-Béatrice Clasmann, Petra Kaminsky, Johannes Sadek und Michel

Einwanderer kommen auf der Insel Lampedusa an. Foto: epa/Ansa
Einwanderer kommen auf der Insel Lampedusa an. Foto: epa/Ansa

ROM/BERLIN/TUNIS: Tausende Kilometer legen Migranten oft zurück in der Hoffnung, in Europa ein besseres Leben zu beginnen. Während sich die Corona-Lage entspannt, steigt die Zahl ihrer Fahrten übers Mittelmeer. In Berlin, Rom und Brüssel stellen sich verdrängte Fragen damit neu.

Sie kommen mit einem Rucksack oder einer Plastiktüte in der Hand in Lampedusa an. Sie klettern aus überfüllten Schlauchbooten und Holzbarken, sie werden auf See von italienischen Patrouillenschiffen an Bord geholt. Mehrere hundert Bootsmigranten mussten Anfang dieser Woche ihre erste Nacht in Europa im Freien auf der Hafenmole der kleinen Insel schlafen. Über 2100 Männer, Frauen und Kinder waren in nur 24 Stunden eingetroffen. Aufnahme der Daten, Corona-Tests, Transport in ein Auffanglager, auf Quarantäneschiffe oder nach Sizilien: Die Behörden dort sind durchaus geübt - aber diesmal war der Andrang einfach zu groß.

In Italien insgesamt haben sich die Migranten-Ankünfte 2021 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum verdreifacht - auf rund 13.000 bis Wochenbeginn. Auch wenn diese Werte bei weitem nicht vergleichbar sind mit den noch höheren aus der Flüchtlingskrise um 2015/16, klangen die Alarmrufe dramatisch. Das Wetter ist im Mai schön, das Meer ruhiger - und die Corona-Lage in Europa bessert sich. Da wagen wieder mehr Schutzsuchende die gefährliche Überfahrt.

«Der Zustrom hat sich verändert, ich habe das seit Wochen weitergemeldet», klagte der Bürgermeister Lampedusas, Totò Martello, in der Zeitung «La Repubblica». Lange seien es kleine Boote mit 15 bis 20 Personen aus dem nahen Tunesien gewesen. Jetzt würden aus Libyen zweistöckige Fischerboote starten mit 200 oder 300 Passagieren an Bord. Die Regierung in Rom müsse die Sache in die Hand nehmen. «Das ist eine politische Frage.»

Der zuständige Regionalpräsident Siziliens, Nello Musumeci, beklagte das Wegdrücken von Verantwortung, obwohl die Überfahrten häufig zur Todesfalle werden. Nach UN-Angaben starben 2021 schon mindestens 511 Migranten auf der Route im zentralen Mittelmeer. «Aber niemand rührt einen Finger, weder in Rom noch in Brüssel», so Musumeci.

Die Regierung Mario Draghis in Rom versucht seit Wochen, die Behörden in Tunesien und Libyen zu strengeren Kontrollen zu bewegen. Im Bürgerkriegsland Libyen geht es auch um die Einhaltung der Menschenrechte.

Noch im Mai will Rom nach Berichten in der EU auf eine verstärkte Übernahme von Menschen dringen. Zwischenzeitlich bremst Italien Hilfsschiffe von privaten Seenotrettern durch Kontrollen und Festsetzungen gezielt aus, wie die Gruppen Sea-Watch und Sea-Eye klagen. «Die EU-Mitgliedsstaaten müssen sofort staatliche Rettungsschiffe in dieses Einsatzgebiet schicken», verlangt Gorden Isler von Sea-Eye.

Doch ob solche Appelle fruchten? In Deutschland ist es umstritten, wie viele Bootsflüchtlinge aus Italien und wie viele Menschen aus den Lagern in Griechenland man aufnehmen soll. Unklar ist auch, was mit denjenigen passieren soll, die zwar keinen Schutz erhalten, aber aus unterschiedlichen Gründen nicht abgeschoben werden können. Ein Aufreger-Thema wie rund um die Bundestagswahl 2017, als der Familiennachzug einer der Knackpunkte der Sondierungsgespräche war, ist die Flüchtlingspolitik zur Zeit aber nicht.

Im Gegenteil: Laut der Umfrage «Die Ängste der Deutschen» gingen die Sorgen im Zusammenhang mit neuer Zuwanderung deutlich zurück. Sie lagen 2020 auf dem niedrigsten Stand seit dem Höhepunkt der Flüchtlingskrise im Jahr 2015. Ob das dauerhaft so bleibt, lässt sich aber schwer voraussehen. «Das Thema Migration wird auch für die nächste Regierung eine erhebliche Rolle spielen», sagt der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Mathias Middelberg (CDU). Die Zahl der Asylanträge sei 2020 zwar wegen der Corona-Pandemie gesunken. «Wir sehen aber jetzt schon wieder wachsende Zuwanderung über das Mittelmeer und zudem ein massives Weiterwandern innerhalb Europas vor allem mit dem Ziel Deutschland.»

Die Grünen fordern im Entwurf für ihr Wahlprogramm, dass Länder und Kommunen selbstständig - also ohne Einwilligung des Bundesinnenministers - über die Aufnahme von Geflüchteten entscheiden können.

Dabei sah es schon mal danach aus, als würden sich zumindest einige EU-Staaten zusammenraufen: Im September 2019 einigten sich Malta, Italien, Deutschland und Frankreich auf eine Übergangslösung. Darauf ließ sich jedoch nicht aufbauen. Neben Deutschland und Frankreich beteiligten sich andere nur selten an der Aufnahme von Bootsmigranten. Malta hat inzwischen fast ganz dicht gemacht: 79 Ankünfte zählte Valletta bisher in diesem Jahr.

Die EU-Kommission betont, die Seenotrettung sei nationale Kompetenz. Trotzdem dringt die schwedische EU-Innenkommissarin Ylva Johansson auf mehr Zusammenarbeit. Deshalb hat sie mit ihren Vorschlägen für eine Reform der EU-Migrationspolitik eine Kontaktgruppe zum Thema aufgesetzt. Seit 2014 seien mehr als 21.000 Menschen auf See gestorben oder würden vermisst. Eine nachhaltige Lösung wäre für Johansson, wenn es auf EU-Ebene nach jahrelangem Streit endlich eine Einigung auf eine Asylreform gäbe. Danach sieht es zeitnah allerdings nicht aus.

Welch beschwerlichen und lebensgefährlichen Weg die Migranten hinter sich haben, die etwa in Lampedusa landen, gerät in dem politischen Gezerre schnell in den Hintergrund. Seit Jahresbeginn stammten die meisten aus Tunesien (15 Prozent), aber auch der Elfenbeinküste (13 Prozent) und sogar aus Bangladesch (10 Prozent) in Südasien. Von dort beträgt die Strecke - wäre es ein Fußweg - nach Lampedusa mehr als 9000 Kilometer. Berichten zufolge sparen einige von ihnen jahrelang, um die von Schmugglern geforderten Summen von mehreren tausend Euro zahlen zu können.

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Leserkommentare

Vom 10. bis 21. April schließen wir über die Songkranfeiertage die Kommentarfunktion und wünschen allen Ihnen ein schönes Songkran-Festival.

Jürgen Franke 12.05.21 16:50
Diese "Leute" sind Menschen, denen
Schlepperorganisatoren eingeredet haben, dass man ohne viel Aufwand und vor allem ohne Bildung in Europa besser leben kann, als in ihrer Heimat. Vor allem vor dem Hintergrund, dass Merkel noch großspurich, ohne Absprache in der EU, das bekannte: "Wir schaffen das" ausgesprochen hat. Das Problem ist bekannt: Nicht nur die Ghettobildung und keine Bereitschaft, sich zu integrieren. Dazu kommen noch die Religionen, die eine Frauenfeindschaft beinhalten.
Bernd Wendland 12.05.21 16:50
"Wer halb Kalkutta aufnimmt, hilft nicht etwa Kalkutta, sondern wird selbst zu Kalkutta!" (Peter Scholl-Latour, zit. bei Wikimannia)
Ralph von Mühldorfer 12.05.21 15:50
diese Leute braucht hier in Europa niemand ...
Wir haben seit Generationen Personal in unseren Haushalten beschäftigt. Doch was soll man mit Leuten, die absolut keine Ahnung von unseren modernen Haushalten haben? Die staunen wahrscheinlich, dass bei uns Trinkwasser aus dem Wasserhahn kommt. Die sind bestimmt fassungslos, dass es so viele unterschiedliche Gläser gibt und dass man für unterschiedliche Textilien auch unterschiedliche Waschmittel gibt. Sorry - wir brauchen diese Leute nicht ...
Norbert Kurt Leupi 12.05.21 14:40
Wirtschaftsflüchtlinge...
kommen meistens nicht aus dem schlimmsten Elend dieser Welt ! Sie kommen aus Ländern , in denen die wirtschaftlichen Aussichten eher trist sind . Beurteilt man sie nach den Kriterien der Genfer Flüchtlingskonvention , haben sie " kein Recht " bei uns zu bleiben , darum muss man sie umgehend abschieben !
Ingo Kerp 12.05.21 12:20
Tunesien, Elfenbeinküste und Bangladesch sind keine kriegführenden Länder. Somit kann man die von dort kommenden Menschen durchaus als Wirtschaftsflüchtlinge bezeichnen. Da die "Buschtrommeln" gut funktionieren, haben die im segensreichen Westeuropa Gelandeten schnell per Smartphone ihren reisewilligen Familien mitgeteilt, das sie nur kleines Gepack, eben Rucksack oder Plastiktüre packen müssen, da sie hier im Westen eben mit allem kostenlos versorgt werden. Mehrere Hunderttausend abgelehnt Asylanträge sind abgelehnt worden und die Personen koennen nicht zurückgführt werden. Die mehr als liberalen Gutmenschenegierungen werden das Problem weder loesen noch in den Griff bekommen.