Will Kaczynski den «Polexit»?

Foto: epa/Darek Delmanowicz
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WARSCHAU (dpa) - Beim letzten Treffen der EU-Regierungschefs in Brüssel sorgte Polen für einen Eklat: Allein auf weiter Flur verweigerte das Land erst die Wiederwahl von EU-Ratspräsident Donald Tusk und dann die Annahme der Gipfelbeschlüsse.

Beim EU-Gipfel zum 60. Jubiläum der Römischen Verträge an diesem Samstag wird sich Polen wohl um Kompromissbereitschaft bemühen. Doch viele Polen beschäftigen der Warschauer Alleingang und die Sorge vor einem «Polexit» noch immer. Die Motive des mächtigen PiS-Chefs Jaroslaw Kaczynski können sie sich nur schwer erklären. Hier einige Theorien:

VERKALKULIERT: Obwohl die PiS erst Tage vor der Wahl einen Gegenkandidaten zu Tusk nominierte, könnte Kaczynski tatsächlich an einen Erfolg der Offensive geglaubt haben. Zumindest habe er nicht erwartet, dass Polen sich auf eine einsame Mission begeben würde, sagt Aleksander Smolar, Politikwissenschaftler und Präsident der Batory-Stiftung. Kaczynski habe auf die Unterstützung Ungarns und Großbritanniens gezählt. Damit hätte seine Partei die Amtsverlängerung Tusks zwar nicht verhindern, zumindest aber dessen Position schwächen können, sagt Smolar dem Magazin «Newsweek».

ANGST VOR KACZYNSKI: Nach einer anderen Theorie hatten hochrangige PiS-Mitglieder Angst, ihren Chef vor dem sicheren Scheitern des Plans zu warnen. Als Überbringer der schlechten Nachricht fürchteten sie, Kaczynskis Ärger ausbaden zu müssen.

NIEDERLAGE NACH PLAN: Kaczynski habe seiner Innenpolitik Vorrang gegeben und dafür den Ärger in Brüssel bewusst riskiert, wirft ihm Ex-Parteimitglied und PiS-Mitbegrüder Ludwik Dorn vor. Tusk gilt als Kaczynskis Erzfeind - dessen mögliche Kandidatur bei den polnischen Präsidentschaftswahlen 2020 wolle der PiS-Chef um jeden Preis verhindern. Tusks zweite Amtszeit in Brüssel endet 2019. Bis dahin wolle ihn die PiS den polnischen Wählern «verekeln», sagt Dorn der «Gazeta Wyborcza». Polens Schlappe beim letzen EU-Gipfel gebe Kaczynski Anlass zu scharfer Anti-Tusk und EU-Rhetorik. Der Eklat in Brüssel sei eine Schau für polnische Wähler gewesen, heißt es.

POLEXIT: Die Blockadehaltung Warschaus gegenüber seinen Partnern und deren scharfe Kritik an dem Land haben viele Polen erschreckt: Steuert die PiS etwa einen Austritt aus der Gemeinschaft an, fragen sie sich. Medien prophezeiten eine «Scheidung mit der EU», das Cover des Magazins «Newsweek Polska» zeigte Kaczynski mit brennender Europaflagge. Dieser streitet die Vorwürfe als «Blödsinn» ab. Solche Behauptungen seien Lügen und Manipulation, empört sich Kaczynski.

RISIKO POLEXIT: Auch Ex-Mitglieder seiner Partei bezweifeln, dass der «Polexit» zum Plan der PiS gehört. Zu riskant sei es, sich von EU- und Nato-Partnern zu isolieren und der russischen Bedrohung auszusetzen, sagt der Europaabgeordnete Kazimierz Ujazdowski. Wegen des umstrittenen Kurses der PiS verließ er zu Jahresbeginn die Partei. Nun vermutet er: Kaczynski wolle den Krisenmoment der EU ausnutzen und ihr seinen Willen aufdrücken.

RACHE: Kaczynskis Anti-Tusk-Offensive sei eine persönliche Fehde, heißt es außerdem. Er habe die Wahlniederlage gegen den politischen Rivalen aus dem liberalen Lager 2007 nicht verkraftet. Außerdem macht Kaczynski Tusk als damaligen Ministerpräsidenten für die Smolensk-Flugzeugkatastrophe 2010 mitverantwortlich. Er habe die Aufklärung des Unglücks vernachlässigt, wirft er ihm vor. Beim Absturz des Regierungsfliegers in Russland starb Kaczynskis Bruder und Polens damaliger Präsident Lech Kaczynski. PiS-Anhänger vermuten hinter der Katastrophe einen Anschlag, obwohl eine Untersuchung anderes ergab.

«Zum Zwillingsbruder hat man eine sehr enge Beziehung», sagte der PiS-Chef. «Wenn Sie ihn in Zusammenhang mit der zweifellosen Aktivität eines Menschen verloren hätten, würden sie diesen dann mögen?», erneuerte er im Gespräch mit der Zeitung «Rzeczpospolita» Vorwürfe gegen Tusk. Seine Politik werde davon aber nicht beeinflusst, meint Kaczynski. Das sehen Experten oft anders. Sie fordern: Polens Regierung müsse weniger Emotionen und mehr Pragmatismus an den Tag legen und durch Kooperationsbereitschaft die Isolation in der EU vermeiden.

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Ingo Kerp 25.03.17 22:36
Wer die Einstellung der poln. Regierung der letzten Monate verfolgt hat, dürfte sich über einen Polexit nicht wundern.