Wie Peking Wanderarbeiter vertreibt

Foto: epa/Wu Hong
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PEKING (dpa) - Eine solche Kampagne hat Peking noch nicht erlebt. Im Namen der Sicherheit werden Zehntausende Wanderarbeiter aus der Hauptstadt vertrieben - und ihre Häuser und Arbeitsstätten abgerissen. Das herzlose Vorgehen gegen die «untere Bevölkerung», zu der jeder fünfte Chinese zählt, stößt sogar in gleichgeschalteten Medien auf Kritik.

Chen begutachtet die Trümmer, die früher einmal Häuser von Wanderarbeiterfamilien am südlichen Stadtrand Pekings waren. Zwischen Glassplittern, abgerissenen Wänden, Kleidungsstücken und herrenlosen Schuhen sucht er sich einen plattgedrückten Karton aus. Mit der Pappe, die er an diesem Tag gesammelt hat, legt er sie auf seine Moped-Rikscha. Die zusammengesuchten Sachen will er später an einen Abfallverwerter verkaufen, um doch noch irgendetwas aus dem Schutthaufen herauszuholen. Es sind Reste auch seines Lebens.

Das Haus des 50-jährigen Fabrikarbeiters wurde abgerissen. Über Nacht hatte die Stadtregierung eine breit angelegte Zwangsräumung von Wanderarbeiter-Unterkünften angeordnet. «Ich mache das nur für ein paar Tage, während ich herausfinde, was als nächstes kommt», sagt Chen, der seinen vollen Namen nicht nennen möchte. «Ich werde weiter nach Wohnmöglichkeiten in Peking schauen. Wenn ich keine finden kann, gehe ich woanders hin. China ist groß.» Wanderarbeiter eben.

Allein in Xinjian im Pekinger Außenbezirk Daxing, wo es viele Bekleidungsfabriken gibt, haben Tausende ihr Zuhause verloren, sie mussten erleben, wie ihre Häuser und Arbeitsplätze über Nacht dem Erdboden gleichgemacht wurden. Den Bewohnern blieben oft nur Stunden, um auszuziehen. Wenige Habseligkeiten konnten sie mitnehmen. Gerade so viel sie tragen konnten. Bei winterlichen Temperaturen unter Null haben sie kein Dach mehr über dem Kopf. Sie wissen nicht wohin, haben kein Geld für Hotels, müssen Unterschlupf bei Freunden suchen - oder in ihre Heimatorte abreisen.

Die Vertreibung ist Teil einer 40-tägigen «Sicherheitskampagne» in der 22-Millionen-Metropole, bei der Mieter aus als «unsicher» eingestuften Gebäuden ausziehen müssen. Die Regierung ordnete die Aktion an, nachdem 19 Menschen am 18. November bei einem Feuer in einem Wohnblock für Wanderarbeiter in Xinjian ums Leben gekommen waren. Die Kampagne beschränkt sich aber nicht auf diese Vorstadt. An mehr als 100 Orten der Hauptstadt erleben Zehntausende, die in billigen Unterkünften leben, ein ähnliches Schicksal.

Jeder fünfte Chinese ist Wanderarbeiter. Offiziell sind es 282 Millionen, die ihre Dörfer verlassen haben und auf der Suche nach Arbeit durch das Riesenreich ziehen. Sogar jeder dritte Beschäftigte gilt als Wanderarbeiter. Das heißt, er hat seine Wohnortregistrierung (Hukou) nicht am Arbeitsort und genießt damit auch nur begrenzte Rechte. Das rigide Hukou-System bindet soziale Leistungen, Rente oder auch den Schulbesuch der Kinder an diese Anmeldung, die mit der Geburt feststeht und nur schwer gewechselt werden kann.

Das Heer der Wanderarbeiter, die für wenig Geld hart arbeiten und oft ausgebeutet werden, sind die eigentlichen Helden des «Wirtschaftswunders» in China. «Die Wanderarbeiter tragen wesentlich dazu bei, dass es in der Stadt gut läuft», sagt der kritische Schriftsteller Murong Xuecun. «Sie hinauszudrängen, wird schlimme Folgen für die Wirtschaft haben. Aber ich denke, die Regierung ist bereit, das zu akzeptieren, weil es Teil ihres Plans ist.»

Empört sind viele über die von lokalen Funktionären benutzte Bezeichnung «untere Bevölkerung», eine Kurzversion für «Leute mit Jobs in unteren Industrien». Wanderarbeiter gelten vielen als verzichtbare Menschen zweiter Klasse. Schon länger ist klar, dass das schnell wachsende Peking künftig nur noch eins sein soll: Hauptstadt. Seit Monaten verlieren viele ihre Jobs, indem Tausende kleine Geschäfte abgerissen oder zugemauert werden, weil den Gebäuden die Gewerbelizenz fehlt, was Jahrzehnte vorher niemand bemängelt hat. «Ihr Plan ist es, Peking zu einer Stadt wie Pjöngjang zu machen - ein Ort zum Vorzeigen, nicht zum Leben», sagt Murong Xuecun.

Mehr als 100 Intellektuelle haben einen Protestbrief gegen die «rücksichtslose» Kampagne geschrieben. Selbst die gleichgeschalteten Staatsmedien lassen seltenen Dissens erkennen. Das Staatsfernsehen kommentierte: «Wie können Wanderarbeiter schnell eine Unterkunft finden, die sicher ist, und wo sollen sie hingehen, um sich vor der eisigen Kälte des Winters zu schützen?». Die «China Daily» sah die «harte Wahrheit», dass Wanderarbeiter «selten die Behandlung genießen, die sie verdienen, weil sie unsere Städte zu lebenswerteren Orten machen».

In den letzten Jahren hat die Stadt schon Fabriken, Großmärkte und Lagerhallen schließen lassen. Südlich von Peking entsteht eine neue Stadt namens Xiong'an. Es ist das Prestigeprojekt von Staats- und Parteichef Xi Jinping. Während sich Peking vor allem als glänzende Hauptstadt präsentieren soll, müssen das Gewerbe und mit ihnen Millionen von Wanderarbeitern nach Xiong'an ziehen.

Aber so lange können viele nicht warten. «Die Fabrik meiner Familie ist seit mehr als 20 Jahren in Peking ansässig», sagt ein 32-jähriger Mann, der nicht namentlich genannt werden möchte. «Die Behörden haben uns von der zweiten Ringstraße zur dritten Ringstraße verjagt, dann zur vierten und dann zur fünften», sagt er mit Bezug auf die Autobahnringe. Er verlädt die Geräte der Bekleidungsfabrik seiner Familie auf Lastwagen. Ziel ist die ostchinesische Provinz Jiangsu.

Die Fabrik und die 100 Angestellten sollen so schnell wie möglich dorthin verlegt werden. Der Umzug soll umgerechnet rund 191.800 Euro kosten - und eine Entschädigung vom Staat gebe es nicht. «Wir sind untröstlich», sagt er. «Peking bietet für uns keinen Platz zur Weiterentwicklung.» Er hat kein Vertrauen, dass ihnen ein geeigneter neuer Standort in der Hauptstadt angeboten wird. «Wir werden nicht dorthin ziehen, weil sie uns letztendlich wieder vertreiben werden.»

Zu denjenigen, die nach Jiangsu gehen, gehört auch die 20-jährige Fabrikarbeiterin Xiao Liu. Die junge Frau stammt ursprünglich aus der östlichen Küstenprovinz Shandong und will auch nicht mehr nach Peking zurückkehren. Sie starrt vor sich hin und lächelt abwesend. «Was ich davon halten?», sagt sie. «Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll.» Ihre Verwirrung und Resignation teilen viele in Xinjian.

Ein Arbeiter einer Umzugsfirma lädt die Habseligkeiten einer Familie auf die Ladefläche eines Lastenmopeds. In den Straßen sieht es aus wie in einem Kriegsgebiet. Ladenschilder und Fenster zerbrochen, Berge von Müll und Sperrgut vor den Häusern, die abgerissen werden sollen. Der Arbeiter in seinen 50ern ist selbst zwangsweise aus seiner Unterkunft vertrieben worden. Er habe gerade mal ein neues Zimmer gefunden, das nicht größer als ein Bett sei. «Ich werde in meine Heimatstadt zurückgehen und nie wieder zurückkehren», sagt der Mann. «Weil Peking ein Ort ist, der dir das Herz bricht?», fragt ihn eine Frau, die dem Gespräch folgt. «Ja, so ist es», sagt der Mann.

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