Wenn das Selbstwertgefühl fehlt

Wenn das Selbstwertgefühl fehlt

Minderwertigkeitskomplexe sind nicht nur eine unglückliche persönliche Eigenschaft. Sie sind eine lebensbestimmende Krankheit. Wer glaubt, wertlos zu sein, wird sich mehr oder weniger zurückziehen, vereinsamen, und in extremen Fällen kommt es sogar zum Suizid. Die kleinste witzig gemeinte Bemerkung bringt diese Menschen oft in ernste Verstimmung. In Gesellschaft kommt es vor, dass sie aufstehen und gehen. Keiner weiß, warum sie jedes negative Wort auf sich selbst beziehen. Sie erwarten ja auch nichts anderes, denn sie sind davon überzeugt, dass andere ihre scheinbare Bedeutungslosigkeit längst erkannt haben und darauf ständig anspielen.

Helga ist so ein Fall. Im Beruf hat sie es nicht weit gebracht. Sie redet wenig, achtet aber genau darauf, welche Anspielungen möglicherweise ihr gelten. Freunde und Bekannte, die sie kennen, wägen in ihrer Gegenwart jeden Satz sorgfältig ab. Trotzdem kommt es vor, dass sie aus heiterem Himmel sagt: „Beleidigen kann ich mich selber“, aufsteht und geht. Jeder fragt sich dann: Habe ich etwas gesagt, was sie verletzt haben könnte? Ratlosigkeit bleibt, ein unangebrachtes schlechtes Gewissen, und die gute Stimmung ist dahin.

Es kommt in seltenen Fällen auch vor, dass Minderwertigkeitskomplexe genau das Gegenteil bewirken, zu Größenwahn führen. Dann heißt die Parole: Denen werde ich es zeigen. Der bekannteste Typ dieser Entwicklung war Adolf Hitler, ein erfolgloser Anstreicher, Maler und Gefreiter aus Österreich. Jedermann weiß, wie sein Streben aus der Bedeutungslosigkeit zu immer mehr Macht über andere führte, ihn zum begnadeten Menschenfänger machte, seinen Anhängern scheinbare Größe verlieh, bis sein Wahn schließlich die Welt mit einem Weltkrieg überzog, dem Millionen zum Opfer fielen. Die Juden drängte er dabei voller Zynismus in seine anfängliche Situation: Sie sind wertlos, nicht lebenswert. Adolf Hitler gilt heute als Psychopath, dessen persönlich empfundene Wertlosigkeit die Welt in eine Katastrophe verwandelte. Häufig gehören auch junge Menschen in diese Kategorie, die Schulen überfallen und jeden, der ihnen in den Weg läuft, wahllos erschießen. Ein aktuelles Beispiel dafür sind die jungen Salafisten, die sich nach Syrien absetzen, um dort einen islamistischen Staat, ein Kalifat aufzubauen. Aus einem mangelnden Selbstwertgefühl entwickelt sich ein Machtbewusstsein, das sich anmaßt, über Leben und Tod anderer zu entscheiden.

Psychiater sind davon überzeugt, Menschen mit solchen Symptomen, wenn sie rechtzeitig erkannt werden, in die Normalität zurückholen, ihnen Sicherheit und Selbstvertrauen im Umgang mit anderen vermitteln zu können. Das Problem ist nur, dass die meisten sich weigern therapeutische Hilfe anzunehmen. Als ich einmal einen Betroffenen auf diese Möglichkeit hinwies, antwortete er mir, höchst aufgebracht: „Wenn einer von uns in die Klapse gehört, dann bist du es.“ Seitdem meidet er mich. Ich kann damit leben, aber er fällt immer tiefer in ein schwarzes Loch, aus dem er sich selbst nicht befreien kann. Einladungen schlägt er aus, Besuchern öffnet er nicht die Tür und Post kommt zurück mit dem Vermerk „Annahme verweigert“.

Im Übrigen gilt dieses Verhalten nicht nur für Erwachsene. Schon im Kindergarten und in den ersten Schuljahren werden sie zu Opfern ihrer gleichaltrigen Kameraden, werden gehänselt, gemobbt und geschlagen. Für viele der Anfang von Erfolglosigkeit im Leben, oft verbunden mit dem Gefühl, selbst schuld zu sein an dieser Situation. Bis die Eltern endlich merken, was mit ihrem Kind passiert, hat dessen Zustand sich häufig schon so verändert, dass Versagen und Angst zu ihrem Alltag gehört. Auch Lehrer übersehen, da sie auf diesem Gebiet häufig nicht geschult sind, die Gründe für den Leistungsabfall und die Verschlossenheit. Erst ein ultimativer Hilferuf, ein Selbstmordversuch, ruft plötzlich alle Koryphäen zusammen, die einen Masterplan für die Behandlung entwi­ckeln, und mit psychiatrischer Betreuung ist eine Besserung des Zustandes, sogar eine Heilung oft erfolgreich.

Im öffentlichen Alltag bemerken wir meistens nicht, wie eine schnodderig hingeworfene Bemerkung andere verletzen kann. Deshalb der gut gemeinte Hinweis, seine Worte sorgfältig zu wählen, vor allem dann, wenn man weiß, dass sein Gegenüber hochsensibel darauf reagieren wird.

Gesundheit ist ein hohes Gut, Rücksichtnahme eine Tugend, und wer sich derer annimmt, die es schwer genug haben, sich in diesem Leben zu behaupten, sind in meinen Augen aller Achtung wert. Ohne sie wäre unsere Welt kälter, unser Leben ärmer und Nächstenliebe ein Fremdwort.

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