Was sich von selbst versteht

Ein Mann hatte das Alter erreicht, in dem die Kräfte schwinden. Die Haare auf dem Kopf waren ihm ausgegangen, er war kahl geworden.

Er hatte zwei Schwiegersöhne. Den Mann seiner Ältesten mochte er sehr, denn er verstand es, ihm zum Munde zu reden. Der Mann der Jüngeren sprach gerade heraus, was seine Ansicht war, er war kein Schmeichler und ein Kriecher schon gar nicht. Die Beziehungen zwischen den beiden Männern waren ähnlich der Verbindung zwischen Liane und Winde: sie konnten einander keinen Halt geben. Darum suchte der Alte nach Mitteln und Wegen, den jüngeren Tochtermann loszuwerden. Doch konnte er ihn natürlich nicht einfach davonjagen. Deshalb sann er auf eine List.

Eines Tages lud der Schwiegervater die beiden jungen Männer ein, mit ihm eine Bootsfahrt zu unternehmen. Sie paddelten gemächlich auf einem Flüsschen dahin. Da sahen sie an einer Biegung ein paar Enten, die sich auf dem Wasser treiben ließen. Der Alte wendete sich an den Mann seiner Erstgeborenen und wollte von ihm wissen, wie es komme, dass Enten schwimmen können. Der Angesprochene erwiderte:

"Sie haben Federn, Vater!”

Die Antwort gefiel dem Schwiegervater. Dann blickte er den Mann seiner Jüngsten an und stellte ihm dieselbe Frage. Die Antwort lautete:

"Es ist ihre Natur!”

Der Alte fand diese Auskunft dumm, aber er sagte nichts.

Sie ruderten weiter und gelangten zu einer Bucht. Dort sah der Schwiegervater eine Gans schnatternd am Ufer stehen. Er fragte die beiden:

"Wie kommt es, dass eine Gans so laut schnattern kann?”

Der Ältere sprach:

"Ihr Hals ist so lang, Vater!”

Der Jüngere gab zur Antwort:

"Das ist ihre Art!”

Der Vater bewunderte die Klugheit seines älteren Tochtermannes, aber mit den Worten des Jüngeren konnte er gar nichts anfangen. Doch er schwieg.

Das Boot glitt weiter. Bald kamen sie an eine Windung des Flusses, wo Bambus wuchs, dessen Sprossen gerade die Erdkrume zu durchstoßen begonnen hatten. Der Alte stellte wiederum eine Frage. Sie lautete:

"Wie kann so ein zarter Sprössling die Erde durchbohren?”

Der Erste sprach:

"Weil er spitz ist, Vater.”

Der Zweite jedoch erwiderte:

"Nichts ist natürlicher als das!”

Wieder war der Vater mit der Antwort des Älteren einverstanden, unzufrieden aber mit der des Jüngsten, doch auch diesmal sagte er dazu nichts.

Weiter trieb das Boot dahin. An der nächsten Biegung befand sich die Anlegestelle eines Tempels. Die Böschung wies die Schlupflöcher von allerlei Kleingetier auf, und diese Löcher waren glatt und glänzten. Der Vater fragte:

"Warum glänzen diese Löcher?”

Der ältere Schwiegersohn antwortete:

"Weil Tiere hinein- und herausschlüpfen.”

Der jüngere entgegnete wie zuvor:

"Das ist doch ganz normal!”

Der Vater dachte, nun ist’s genug. Das reicht. Jetzt gibt es der Gründe viele, den jüngeren Tochtermann fortzujagen. Er ließ die beiden ans Ufer treten und unter dem Vordach an der Landungsstelle Platz nehmen. Dann wendete er sich an den jüngeren seiner Schwiegersöhne.

"Ich habe dich gefragt, warum Enten auf dem Wasser schwimmen können. Dein Schwager hat geantwortet, weil sie Federn haben, du aber sagtest nur, weil das ihre Natur sei. Was soll das heißen?

Der Sohn war um eine Erklärung nicht verlegen:

"Würdiger Vater, dass schwimmen kann, was Federn hat, stimmt nicht. Auch was keine Federn hat, vermag zu schwimmen!”

Der Vater fragte: "und was?”, und der Angesprochene gab zur Antwort: "die Kokosnuss!”

Der Alte war sprachlos. Schließlich murmelte er:

"Das lass’ ich gelten, aber weiter, ich habe wissen wollen, warum die Gans eine so laute Stimme hat. Dein Schwager hat es erklärt. Die Gans hat einen langen Hals. Du aber entgegnetest nur, es sei ihre Art, laut zu schnattern.

Der jüngere Tochtermann erklärte:

"Geehrter Vater, dass nur Tiere mit langen Hälsen laut schreien, trifft nicht zu. Denn auch Tiere mit kurzem Hals können ohrenbetäubend brüllen:”

Wieder fragte der Vater nur: "Wer denn?”, und erhielt zur Antwort: "Der Ochsenfrosch!”

Dem Alten wurden die Ohren rot. Er knurrte nur:

"Das geht durch”, und fuhr fort, "zum Dritten habe ich gefragt, wie Bambussprossen die Erde durchstoßen können, und dein Schwager hat richtig geantwortet, weil sie spitz sind, aber du, du hast festgestellt, nichts sei natürlicher als das. Was wolltest du damit sagen?”

Die Antwort ließ nicht auf sich warten:

"Tugendhafter Vater, dass spitz sein muss, was die Erdoberfläche durchdringen will, trifft nicht zu. Auch was rund ist, kann das tun.”

Der Vater fragte, was das sei, und der Sohn erwiderte:

"Der Pilz!”

Da durchlief den Alten ein Zittern, und er blieb stumm. Nach einer Weile hatte er sich beruhigt und kam auf die letzte Frage zu sprechen:

"Ich habe wissen wollen, warum die Löcher in der Flussböschung so glatt sind und glänzen, dein Schwager hat das mit dem Ein und Aus der Tiere erklärt. Recht hatte er. Du aber meintest nur, das sei doch ganz normal, erläutere mir, was du gemeint hast!”

Der jüngere Schwiegersohn wusste, dass seine Antwort dem Vater gar nicht gefallen würde, und blickte sich verstohlen nach einem Fluchtweg um. Dann nahm er beherzt das Wort:

"Du meinst, etwas sei glatt und glänzend, weil allerlei Kleintiere darin wohnen und heraus- und hineinrutschen. So einfach geht das nicht. Es gibt etwas, das glatt und glänzend ist, ohne dass seine Bewohner es durch Löcher und Öffnungen je verlassen.”

"Und was soll das sein?

"Dein eigener Glatzkopf, Vater!”

Sprach’s, sprang auf und war verschwunden. Der Vater ärgerte sich. Seine Ohren hatten sich gerötet, jetzt wurden auch seine Augen rot. Den Schwiegersohn brauchte er nun nicht mehr wegzujagen. Er war schon fort.

Diese Geschichte hat eine Lehre. Auf unserer Weit ist alles den Gesetzen der Natur unterworfen. Es gibt den Tag und die Nacht. Es gibt den Mond und die Sonne. Wir brauchen die Natur bloß richtig zu beobachten. Dann merken wir von allein, was sich von selbst versteht, und brauchen danach nicht zu fragen.

Überzeugen Sie sich von unserem Online-Abo:
Die Druckausgabe als voll farbiges PDF-Magazin weltweit herunterladen, alle Artikel vollständig lesen, im Archiv stöbern und tagesaktuelle Nachrichten per E-Mail erhalten.

Leserkommentare

Vom 10. bis 21. April schließen wir über die Songkranfeiertage die Kommentarfunktion und wünschen allen Ihnen ein schönes Songkran-Festival.