Warum Polizisten zur Waffe greifen

Foto: dpa/Arne Dedert
Foto: dpa/Arne Dedert

MÜNSTER (dpa) - Im Fernsehen schießen Polizisten quasi täglich, im echten Leben machen die Beamten deutlich seltener von der Waffe Gebrauch. Doch wenn sie es tun, erregt jeder einzelne dieser Fälle viel Aufsehen - wie vor wenigen Tagen, als ein Spezialeinsatzkommando (SEK) in Sachsen-Anhalt einen 28-Jährigen erschoss, nachdem ein Familienstreit eskaliert war. Fragen und Antworten zum Schusswaffengebrauch der deutschen Polizei:

Wie oft schießen Polizisten in Deutschland bei ihren Einsätzen?

Im vergangenen Jahr hat die Polizei in 52 Fällen auf Menschen geschossen, rechnerisch gesehen also jede Woche einmal. Elf Menschen starben, weitere 28 wurden verletzt. Hinzu kamen Warnschüsse. Wie aus den Zahlen der Deutschen Hochschule der Polizei in Münster zudem hervorgeht, schießen Polizisten vor allem, um gefährliche, kranke oder verletzte Tiere zu töten. 12.656 Fälle dieser Art wurden vergangenes Jahr in Deutschland registriert.

Kommen heute mehr Menschen durch polizeilichen Schusswaffengebrauch ums Leben als noch vor einigen Jahren?

Nach den Statistiken, die der Deutschen Presse-Agentur vorliegen, lagen die Zahlen für 2016 etwas höher als in den Vorjahren. 2015 starben zehn Menschen, weitere 22 wurden verletzt. 2014 waren es sieben Tote und 30 Verletzte - und im Jahr 2013 laut Hochschule der Polizei acht Tote und 20 Verletzte. Angesichts von mehr als 300.000 Polizisten, die es in Deutschland bei Bund und Ländern gibt, bewegen sich diese Zahlen dennoch auf eher niedrigem Niveau.

Wird die Polizei schießwütiger?

«Nein, wir hatten und haben keine "schießwütige" Polizei», betont der Kriminologe Prof. Thomas Feltes von der Ruhr-Universität Bochum. «Nach wie vor benutzen die allermeisten Polizeibeamtinnen und -beamten ihre Dienstwaffe ein Leben lang ausschließlich auf dem Schießstand.» Ähnlich sieht es die Gewerkschaft der Polizei (GdP). Deren Bundesvorsitzender Oliver Malchow weist darauf hin, dass die «Statistik über den polizeilichen Schusswaffengebrauch gegen Menschen weitgehend gleichbleibend ist und Schüsse auf Menschen relativ selten sind». In der GdP-Mitgliederzeitschrift «Deutsche Polizei» hieß es kürzlich, auch weil in Film und Fernsehen ständig geballert werde, habe die Öffentlichkeit eine verzerrte Vorstellung von Polizeiarbeit.

In welchen Situationen schießen Polizisten?

Die Todesfälle im vergangenen Jahr gingen der Statistik zufolge allesamt auf Notwehr oder Nothilfe zurück - Letzteres sind Fälle, bei denen Polizisten anderen Menschen in Lebensgefahr helfen mussten. Gründe zum Schießen könnten etwa auch die Verhinderung von Verbrechen oder Fluchtvereitelung sein. Aus Sicht von Reinhold Bock, Polizeihauptkommissar im Ruhestand und Leiter der bundesweiten Selbsthilfegruppe Schusswaffenerlebnis, bergen Messerangriffe ein besonders großes Risiko für Polizisten: «Da kann ich den Kollegen nicht verdenken, ihr Leben durch die uns vom Dienstherrn zur Verfügung gestellte Dienstwaffe zu verteidigen.» Gewerkschaftschef Malchow sagt: «Mehr Gewalt bedeutet für meine Kolleginnen und Kollegen, sich stärker auf die Eigensicherung konzentrieren zu müssen, was dann auch das Ziehen der Waffe beinhaltet.» Das sei «ein letztes, aber zulässiges Mittel der Notwehr». So war der Schusswaffengebrauch auch beim Einsatz von Spezialkräften während der Krawalle am Rande des G20-Gipfels in Hamburg freigegeben, wie ein SEK-Führer sagte.

Auf wen schießen Polizisten?

«Wenn man sich die Fälle des tödlichen Schusswaffengebrauchs genauer ansieht, dann stellt man fest, dass in den meisten Fällen die Opfer psychisch Kranke oder gestörte Personen sind», erklärt Prof. Feltes. «Hier haben wir tatsächlich eine Zunahme und den dringenden Bedarf nach mehr Fortbildung für die Polizei.»

Wie steht es um die Ausbildung?

Feltes sagt, viele Beamte seien nicht im Erkennen von psychisch gestörten Personen geschult - und noch weniger in der Frage, wie man mit ihnen umgehen sollte. Zwar habe Deutschland «eine sehr gut ausgebildete Polizei»; die allermeisten Alltagssituationen würden sehr professionell gelöst. «Aber leider wird das in der Ausbildung vermittelte Wissen nicht regelmäßig aktualisiert, was besonders im Bereich der psychischen Erkrankungen aber unbedingt notwendig ist», betont der Kriminologe. GdP-Chef Malchow sagt: «Die Handlungssicherheit im Umgang mit der Dienstwaffe fördert regelmäßiges Training. Weil jedoch seit der Jahrtausendwende viele Stellen bei der Polizei abgebaut wurden, die Belastungen zugenommen haben, zudem viele Kolleginnen und Kollegen wegen Krankheiten ausfallen, bleibt dafür oft nicht genügend Zeit.»

Wie sieht der Vergleich zu den USA aus?

Nach einer Erhebung der «Washington Post» haben Polizisten in den USA im vergangenen Jahr 963 Menschen erschossen. Wenn man die Einwohnerzahlen berücksichtigt (rund 324 Millionen in den USA und rund 81 Millionen in Deutschland), dann ist die Zahl der tödlichen Polizeischüsse in den USA grob gesagt mehr als 20 Mal so hoch wie in Deutschland.

Wie gehen Polizisten damit um, einen Menschen erschossen zu haben?

Betroffene Polizisten finden Hilfe etwa in der Selbsthilfegruppe Schusswaffenerlebnis. Der Bedarf sei so hoch, dass die Bewerber zum Beispiel nach der Schwere ihres Erlebnisses ausgewählt werden müssten, sagt Leiter Reinhold Bock. Eine Wiedereingliederung in den Polizeialltag sei erfolgreich, wenn Betroffene adäquat betreut würden. Bock beschreibt die Situation von Polizisten, die einen Menschen erschossen haben, so: «Die Presse schreibt negativ, die Kollegen machen (schlechte) Witze über dich, du fühlst dich unverstanden. Deine Gefühlswelt gerät ins Wanken: "Du bist doch dazu da Menschen zu retten, zu helfen und jetzt hast du ein Menschenleben ausgelöscht."» Wer mit solchen Gedanken alleine gelassen werde, finde sehr schwer wieder ins Berufsleben zurück.

Die Polizei muss sich immer wieder Vorwürfe gefallen lassen, wenn Beamte schießen. Worum geht es bei dieser Kritik zum Beispiel?

Nach Beobachtung von Prof. Feltes gibt es «einen gewissen Widerstand innerhalb der Polizeiführung und der Innenministerien», wenn es um das Thema Schusswaffengebrauch geht. «Die Todesfälle werden nicht immer entsprechend aufbereitet, und vor allem werden nicht die nötigen Konsequenzen aus den Erfahrungen gezogen», kritisiert der Wissenschaftler. Für Fälle, bei denen die Polizei mit psychisch gestörten Kontrahenten zu tun hat, fordert er etwa, entsprechend geschulte Experten wie Psychologen und Mediziner einzubeziehen - schon bei der ersten Information, also meist nach dem Notruf.

Überzeugen Sie sich von unserem Online-Abo:
Die Druckausgabe als voll farbiges PDF-Magazin weltweit herunterladen, alle Artikel vollständig lesen, im Archiv stöbern und tagesaktuelle Nachrichten per E-Mail erhalten.

Leserkommentare

Vom 11. bis 21. April schließen wir über die Songkranfeiertage die Kommentarfunktion und wünschen allen Ihnen ein schönes Songkran-Festival.