Trauerspiel in Brasilia

Foto: epa/MÁrio Cruz
Foto: epa/MÁrio Cruz

BRASILIA (dpa) - Vor einem Jahr kam es mit der Suspendierung von Präsidentin Dilma Rouseff zum Machtwechsel in Brasilien - der neue Präsident Temer ist fast noch unbeliebter. Ein alter Bekannter sinnt bereits auf Rache.

Als eine der wenigen hat sich Kanzlerin Angela Merkel noch mal bei ihr gemeldet, nach dem bitteren Rauswurf aus dem Präsidentenpalast. Merkel hat großen Respekt vor dem Weg der früheren Guerillakämpferin Dilma Rousseff, die den Folterkeller in Brasiliens Militärdiktatur überlebte und eine eiserne Präsidentin wurde - die dann aber aus ihrer Sicht von einer Männerriege weggeputscht wurde.

Fünf Millionen Menschen folgen ihr ein Jahr nach der Suspendierung am 12. Mai 2016 immer noch bei Twitter. Über den Kurznachrichtendienst mischt sich die Politikerin der linken Arbeiterpartei weiter ein, nannte den jüngsten Generalstreik, den ersten seit 21 Jahren, einen «Moment der Hoffnung und des Widerstands». Und sie bezeichnet sich hier weiter trotzig als «gewählte Präsidentin Brasiliens». Aber unter ihr stürzte das fünftgrößte Land der Welt in eine tiefe Rezession ab.

Seit jenem Senatsvotum am 12. Mai ist Michel Temer (76) Präsident. Es folgte noch ein «Prozess» um Rousseffs angebliche Verfehlungen wie Tricksereien beim Haushaltsdefizit, bevor sie Ende August definitiv des Amtes enthoben wurde. Temer, ihr einstiger Vizepräsident, hatte sie ihrer Meinung nach durch ein Bündnis mit der Opposition gestürzt.

Temer meidet öffentliche Auftritte. Das gellende Pfeifkonzert gegen ihn bei der Eröffnung der Olympischen Spiele in Rio de Janeiro wurde zum peinlichen Menetekel. Die Linke ist noch mächtig und bekämpft ihn bis aufs Blut. Er kommt einer Umfrage zufolge derzeit auf neun Prozent Zustimmung. Acht Minister hat er in dem einem Jahr verloren.

Rousseff meint, sie sei nur gestürzt worden, damit Temer und seine Mitstreiter von der Regierung aus die gnadenlos ermittelnde Justiz im größten Korruptionsskandal des Landes («Lava Jato» - «Autowäsche») bändigen können. 2014 begannen die Behörden um den gefeierten Richter Sergio Moro im südbrasilianischen Curitiba damit, das langjährige Netzwerk um Schmiergelderzahlungen bei Auftragsvergaben von Konzernen wie Petrobras und Odebrecht aufzudecken. Neun Minister Temers stehen unter Korruptionsverdacht. Auch er selbst kann darüber noch stürzen.

Der Skandal betrifft fast alle Parteien im Kongress. Besonders hat sich Moro auf Ex-Präsident Luiz Inácio Lula da Silva eingeschossen, ihm wird eine Rädelsführerschaft vorgeworfen. Auch Rousseff muss noch Ungemach fürchten. Nach einem Kreuzverhör am Mittwoch bei Moro sagte Lula vor tausenden jubelnden Anhängern, Moro habe keinerlei Beweise vorgelegt. Und er will die Demontage von Rousseff und das Ende des linken Projekts bei der Wahl 2018 rächen: «Ich bereite mich darauf vor, dann wieder Kandidat zu sein, nie hatte ich mehr Lust dazu.»

Aber wirtschaftlich gibt es Anzeichen von Besserung. Temer hat den angesehenen Finanzexperten Henrique Meirelles ins Kabinett geholt, unter Lula Chef der Zentralbank. Er versucht, die tiefste Rezession der Geschichte (2015: -3,8 Prozent, 2016: -3,6 Prozent) in den Griff zu bekommen. Vor allem die Pensionslasten schränken den Spielraum für Investitionen ein. Große Flughäfen wurden privatisiert, um neues Geld zu bekommen. Zudem soll die Bürokratie abgebaut, der Kündigungsschutz gelockert und der Rentenbeginn nach hinten verschoben werden.

Doch im Ringen um neues Wachstum kommen einige unter die Räder, vor allem die indigene Bevölkerung, die um ihre Schutzzonen fürchten. Mit Blairo Maggi ist einer der größten Sojaunternehmer Agrarminister, im Amazonasgebiet toben blutige Landkonflikte. Jüngst kam es in Brasilia zu heftigen Protesten, Indigenas wollten den Kongress stürmen. Die Polizei setzte massiv Tränengas ein, die Indigenas Pfeil und Bogen.

13,5 Millionen Menschen sind arbeitslos, harte Sparmaßnahmen haben gerade in Rio nach Olympia zu einem veritablen Kater geführt: Überfälle und Schießereien nehmen drastisch zu, jüngst wurden am helllichten Tag auf einer Hauptstraße acht Busse in Brand gesetzt - von Drogengangs, aus Rache über einen Polizeieinsatz gegen sie.

Der Verdruss über die politische Klasse ist groß. Wie gespalten das Land ist, zeigt eine Umfrage, wer denn - Stand heute - Favorit wäre bei der Präsidentschaftswahl 2018, bei der Temer wegen umstrittener Wahlkampffinanzierungen ohnehin nicht antreten darf. Trotz aller Vorwürfe liegt da der einstige linke Hoffnungsträger Lula vorn, der vom Schuhputzer zu einem der beliebtesten Politiker der Welt aufstieg und das Land dank damals sprudelnder Ölmilliarden modernisierte.

Auf Platz zwei liegt der Ultrarechte Jaír Bolsonaro, der bei der Debatte über Rousseffs Absetzung ein Lob für Carlos Alberto Brilhante Ustra anstimmte - Ustra war Chef des Folterzentrums, in dem Rousseff Qualen litt. Viele Brasilianer flüchten sich ob der wenig erbaulichen Politik lieber in pseudoreligiöse Heilserwartungswelten: Laut einer offiziellen Erhebung wird jede Stunde eine neue Sekte gegründet.

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