Russlands Opposition zwei Jahre nach Nemzow-Mord in Schockstarre

Foto: epa/Paul Zinken
Foto: epa/Paul Zinken

MOSKAU (dpa) - Es ist ein recht einsamer Kampf. Seit fast 730 Tagen steht Jelena täglich mehrere Stunden auf der Brücke nur wenige Meter vom mächtigen Kreml entfernt - Eisregen, Schnee oder heftige Windböen können sie nicht von ihrem Vorhaben abhalten. Sie legt die wenigen Blumen zurecht, zündet die Kerzen an und wischt Regentropfen vom Bild des getöteten russischen Oppositionellen Boris Nemzow. Ein blaues Straßenschild liegt genau an der Stelle, an der der Politiker am 27. Februar 2015 erschossen worden war. In weißen kyrillischen Buchstaben steht darauf: «Nemzow Brücke» - wie Oppositionelle den Ort seit der Tat unter sich nennen.

24 Stunden, 7 Tage die Woche halten einige Dutzend Menschen eine Mahnwache - weniger für Nemzow, als «vielmehr für die russische Demokratie», erklärt Jelena. «Sie sollen sehen, dass wir hier sind, dass wir uns nicht einschüchtern lassen», sagt die 60-Jährige und zeigt auf den Roten Platz im Herzen der russischen Hauptstadt. «Sie» - damit meint Jelena die russische Führung, allen voran Präsident Wladimir Putin.

Wie so viele Oppositionelle in Russland zweifelt auch die Rentnerin an der offiziellen Version, nach der fünf Tschetschenen hinter dem Mord an Nemzow stecken sollen. Gegen die Männer läuft ein Prozess. Selbst wenn es zu einer Verurteilung kommen sollte, würden die wahren Hintergründe der Tat aber im Dunkeln bleiben, sind sich Beobachter sicher. Nemzows Angehörige und Unterstützer vermuten, dass der Mord von höchster Stelle geplant worden sei und etwa der kremltreue Machthaber in der Teilrepublik Tschetschenien, Ramsan Kadyrow, die Tat angeordnet habe.

Der Mord an einer der Galionsfiguren der zersplitterten russischen Opposition traf Aktivisten und Kritiker 2015 schwer und schwächt sie bis heute. Zwar waren sie schon zuvor systematisch an den Rand der politischen Existenz gedrängt worden, doch nun verfielen sie in eine Art Schockstarre. «Die russischen Demokraten haben ihren erfahrensten Anführer verloren», sagt der Journalist Michail Fischman in einem Interview anlässlich einer Dokumentation über Nemzow. Dass die Moskauer auch zwei Jahre nach der Tat noch immer mit Blumen an Nemzow denken, zeuge aber von seiner großen Wirkung auf die demokratischen Bewegungen im Land. «Sein Tod ist nicht so sehr ein Wendepunkt, als vielmehr ein großes Symbol.»

Der Reformer Nemzow, der selbst einst als Vizeregierungschef unter dem damaligen Präsidenten Boris Jelzin zum politischen Establishment gehörte, hatte viele Anhänger. Der 55-Jährige konnte zwar nicht für alle Putin-Gegner den kleinsten gemeinsamen Nenner bilden, sagen seine einstigen Mitstreiter. «Er konnte aber besser als andere verhandeln und Kompromisse finden», meint Fischman. Das machte auch bei vielen anderen politischen Gruppen Eindruck. Die Opposition ist führungslos. «Die Protestbewegung könnte heute viel besser agieren, wäre Nemzow noch am Leben», ist sich der Journalist sicher.

Gut ein Jahr vor der Präsidentenwahl im März 2018 sehen viele Kritiker und Aktivisten keine Chance für eine Wende. Putin hat zwar noch nicht gesagt, ob er wieder antritt, aber Beobachter rechnen fest damit.

Seit dem Mord an Nemzow geht unter Oppositionellen eine Angst um, wer als nächstes ausgeschaltet werden könnte. Erst Anfang Februar lag der Journalist und Nemzow-Vertraute Wladimir Kara-Mursa wegen einer schweren Vergiftung auf der Intensivstation. Die Umstände sind noch nicht geklärt. Bereits 2015 überlebte der Kremlkritiker nach eigenen Angaben nur knapp eine Vergiftung.

Alexej Nawalny, der wohl derzeit prominenteste Oppositionelle, wurde in einem international kritisierten Prozess zu einer Bewährungsstrafe verurteilt. Dies könnte ihn an einer Kandidatur 2018 hindern.

Anhänger und ehemalige Weggefährten von Nemzow planen an diesem Sonntag einen Gedenkmarsch im Zentrum von Moskau. Zur Brücke vor den Kremlmauern dürfen die erwarteten 30.000 Demonstranten trotz Anfrage bei der Stadtverwaltung aber nicht marschieren.

«Sie kommen sowieso fast jeden Tag vorbei», sagt Jelena, die auch am Sonntag mitmachen will. Für einige Moskauer sei es fast schon ein Routinegang geworden. Nach der Arbeit hasteten sie auf dem Weg zur nächsten Metrostation an der Mahnwache vorbei und legten etwa noch eine rote Rose nieder. «Immer wieder kommen aber Polizisten und nehmen alle Kerzen, alle Blumen mit», erzählt Jelena. Nach jeder Aktion legten die Menschen noch mehr Blumen hin. «Wir bleiben hier», sagt die Rentnerin. «Morgen komme ich auf jeden Fall wieder.»

Überzeugen Sie sich von unserem Online-Abo:
Die Druckausgabe als voll farbiges PDF-Magazin weltweit herunterladen, alle Artikel vollständig lesen, im Archiv stöbern und tagesaktuelle Nachrichten per E-Mail erhalten.
Pflichtfelder

Es sind keine Kommentare zum Artikel vorhanden, bitte schreiben Sie doch den ersten Kommentar.