Populäre Kommunisten: Graz als Versuchslabor für Bürgernähe

Foto: dpa/Erwin Scheriau/APA
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GRAZ (dpa) - Es war viel los an diesem Vormittag. «59 Bürger waren da, nur 23 hatten einen Termin, aber mein Büro ist immer für jeden offen», sagt Elke Kahr. Die kostenlose Beratung in Mietrechtsfragen durch sie und ihre Mitarbeiter ist begehrt. Die 55-Jährige ist die Vizebürgermeisterin von Graz, ist verantwortlich für die 11.500 Sozialwohnungen der Stadt und vor allem ist sie Kommunistin. Für die KPÖ hat sie bei der Gemeinderatswahl 2012 sensationelle 19,9 Prozent geholt und die Partei im Stadtparlament zur zweitstärksten Kraft hinter der konservativen ÖVP gemacht.

Das Rezept, das am 5. Februar bei der Gemeinderatswahl in der zweitgrößten Stadt Österreichs wieder auf dem Prüfstand steht: Bürgernähe, Bürgernähe, Bürgernähe. Und die lebt die hellwache, genauso kampflustige wie charmante Politikerin auch beim Geld vor. Von ihrem üppigen Netto-Gehalt von zuletzt 8.000 Euro monatlich behält sie nur 1.900 Euro. Mit dem Rest hat sie seit 2005 mehr als 6.100 Menschen in Not unterstützt. Da sind ausweislich ihrer tadel- und lückenlosen Buchführung 604.212 Euro für Arme zusammengekommen - zum Beispiel 180 Euro für einen mittellosen Rentner, der so eine Rate beim Zahnarzt bezahlen konnte.

«Nur wer selbst für Anschaffungen sparen muss, weiß, wie die meisten Bürger leben», ist sie überzeugt. In der stetig wachsenden 266.000-Einwohner-Stadt hat die KPÖ seit rund 20 Jahren ein besonderes Image aufgebaut - und es damit sogar in den Landtag der Steiermark geschafft. Die Kommunisten gelten auch bei konservativen Wählern als äußerst glaubwürdige Volksvertreter.

Nicht nur, weil Kahr und die beiden KPÖ-Landtagsabgeordneten lieber bedürftigen Menschen helfen als ein dickes Konto ansparen. «Wir sind eine Partei mit Gebrauchswert», sagt Kahr über ihr von Vielen geteiltes Ziel, armen Menschen lebenswerten Wohnraum zu schaffen und zu erhalten. Die KPÖ hält sich zugute, Tausende von sogenannten Gemeindebauwohnungen von 1999 bis 2011 in einem großen «Nasszellen- Projekt» erstmals mit eigenem Klo und Bad ausgestattet zu haben.

Tatsächlich ist Graz, Heimat von Österreichs Vorzeige-Volksmusiker Andreas Gabalier und die Partnerstadt von Darmstadt, ein sehr spezielles Pflaster. Die Kommune hatte schon einen FPÖ-Bürgermeister, wurde von sozialdemokratischen Stadtchefs regiert und der Umstand, dass die konservative ÖVP mit Siegfried Nagl aktuell den Bürgermeister in einer nicht zuletzt von Studenten geprägten Großstadt stellt, läuft dem landesweiten Trend völlig zuwider.

«Es ist die politisch bunteste Großstadt Österreichs», sagt der aus der Steiermark stammende Politikberater Thomas Hofer. Die Bereitschaft, die Parteibindung aufzugeben, sei in Graz dramatisch höher als anderswo. In gewisser Weise sei die einst industriell geprägte Stadt mit ihren «beinharten Arbeitervierteln» eine Art «Mikrokosmos und Versuchslabor» für die Personalisierung eines Wahlkampfs, sagt Hofer.

«Die Grazer schauen sehr genau, wem sie ihr Vertrauen schenken. Parteien haben da nicht mehr den Stellenwert, den sie sich wünschen», sagte Bürgermeister Nagl unlängst der Zeitung «Kurier». Er selbst kommt auf seinen Wahlplakaten folgerichtig ohne ÖVP-Kennung aus, und seine bevorzugte Plakatfarbe ist grün. Die Grünen, 2012 mit zwölf Prozent nur fünftstärkste Kraft, hoffen, dass sie vom Schwung des 4. Dezembers profitieren. Damals holte der Grünen-nahe Präsidentschaftskandidat Alexander Van der Bellen mit 67 Prozent hier sein bestes Ergebnis in ganz Österreich. Die ausländerkritische FPÖ will mit dem Slogan «Holen wir unser Graz» zurück» punkten. Die SPÖ startet von einem historischen Tief von 15,3 Prozent.

Die KPÖ konnte sich bei der Wahl 2012 laut Wahlforschung auf die Unterstützung ausgerechnet der Selbstständigen verlassen, die FPÖ auf die Arbeiter und die ÖVP auf die Rentner.

Kahr, einst Sekretärin in einer Bank, ist seit 30 Jahren bei der KPÖ. Sie hat Flugblätter gedruckt und verteilt, und vor ihrer Zeit als KPÖ-Frontfrau von nur 1.500 Euro gelebt. Ihre aktuelle Großzügigkeit hänge nicht von der Hoffnung auf Wählerstimmen ab, versichert sie. «Diese Menschen haben meist so viele Sorgen, dass sie gar nicht zur Wahl gehen.» Und im Gegensatz zu Millionären, die ihre Spenden absetzten, sei es für sie Ehrensache, damit keine Steuern zu sparen. Sie gönne sich nur alle paar Jahre eine inflationsbedingte Anpassung ihres Selbstbehalts.

Der Wahlkampf in Graz am Fuß der letzten Ausläufer der Ostalpen wird bestimmt von den Themen Wohnen, Verkehr und Umwelt. Die KPÖ hatte die zweijährige «Budget-Partnerschaft» mit ÖVP und SPÖ im November platzen lassen, weil sie eine Volksbefragung zu einem Wasserkraftwerk in der Stadt durchsetzen will. Auch die Grünen sind gegen das Projekt. Die anderen Parteien sind mehr oder weniger deutlich für den 84 Millionen teuren Kraftwerksbau an der Mur.

Doch aus Sicht der KPÖ - und der Grünen - ist, was nach vorbildlicher Umweltpolitik klingt, eine Mogel-Packung. Für das Projekt würde die Mur aufgestaut, 8.000 Bäume müssten weichen, fast der gesamte innerstädtische Grünstreifen entlang des Flusses geopfert, sagt Kahr. «Das ist ein erheblicher Eingriff ins Stadtbild. Das Mikroklima wird sich ändern. Dazu ist die Bevölkerung zu befragen», sagt Kahr.

Für die 55-Jährige lebt - trotz gescheiterter Sozialismus-Versuche weltweit - die alte Idee von der gerechten, solidarischen Gesellschaft mehr denn je. «Der Marxismus ist mein Kompass. Er birgt immer noch die menschlichsten Antworten.»

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