Noch ein Krieg für Afghanistan?

Foto: epa/Jawad Jalali
Foto: epa/Jawad Jalali

KABUL (dpa) - Eine Woche nach der Bombe kreisen noch immer Wespen über den Überresten von Menschen und ihrem Blut.

Gemeindemitglieder haben die verbrannten Teppiche aus dem Gebetsraum geschafft, die Splitter zerborstener Fensterscheiben aufgefegt und das aus den Angeln gesprengte Holztor sorgsam an die Wand gelehnt. «Aber niemand hier will die Überreste von Freunden, Verwandten oder Nachbarn von den Wänden waschen», sagt der Wakil-e Gusar, der Bürgervertreter des Viertels, Ibrahim Mustar.

In dieser Moschee in Dascht-e Bartschi, dem großen Schiitenviertel im Westen von Kabul, hat sich Ende Oktober ein Selbstmordattentäter in die Luft gesprengt. 71 Menschen starben. Es war schon der zweite Bombenanschlag auf eine Moschee in Dascht-e Bartschi innerhalb von zwei Monaten und der fünfte in Kabul in diesem Jahr.

Es gab noch mehr Anschläge auf Schiiten - nicht nur auf Moscheen und nicht nur in Kabul, sondern auch auf Demonstranten oder Mullahs, in Herat im Westen oder Dschausdschan im Norden. Zählt man sie zusammen, kommt man auf mindestens neun seit Januar, mit mindestens 212, nach anderen Zählungen knapp 280 Toten.

Die UN sprechen in einem am Dienstag veröffentlichten Bericht von einem «verstörenden Trend». Sie kommen seit Anfang 2016 allein auf zwölf Anschläge auf Schiiten in Moscheen mit 230 Toten und 459 Verletzten. Viele hat die sunnitische Terrormiliz Islamischer Staat (IS) für sich reklamiert. Die war Anfang 2015 in Afghanistan aufgetaucht und hat die Bedrohungslage im Land drastisch verschärft.

Die Expansion des IS zusammen mit den Erfolgen der Taliban, die mittlerweile wieder rund 13 Prozent des Landes kontrollieren, veranlassen jetzt die USA und viele Nato-Länder, nach Jahren des Truppenabzugs wieder Tausende zusätzliche Soldaten nach Afghanistan zu schicken. Bei einem Treffen in Brüssel am Mittwoch und Donnerstag wollen die Nato-Verteidigungsminister die neuen Zahlen bekanntgeben.

«Bisher waren die Afghanen gegen Versuche, einen Konflikt zwischen Sunniten und Schiiten zu erzeugen, ja weitgehend immun», sagt der Ko-Direktor des Rechercheinstituts Afghanistan Analysts Network (AAN), Thomas Ruttig. «Aber durch die IS-Anschläge hat jetzt die Gewalt gegen Schiiten deutlich zugenommen, und das ist besorgniserregend.» Die Aggressivität des neuen IS in Afghanistan wirft die Frage auf, ob Afghanistan zusätzlich zu seinem Krieg mit den Taliban auch noch in einem Religionskrieg hineingezogen wird.

Es wirft auch die Frage auf, ob der IS so den sowieso fragilen Staat entlang ethnischer Gräben weiter aufbrechen wird. Denn die Schiiten im Land sind fast ausnahmslos Hasara: eine ethnische Gruppe von sechs bis neun Millionen Menschen, die klagen, sie würden von den anderen Gruppen, den Paschtunen und Tadschiken, systematisch diskriminiert.

«Wenn die Regierung uns nicht schützt, dann müssen wir es eben selber tun», sagt der Hasara-Abgeordnete Arif Rahmani bei einem Gespräch in seinem Büro. Rahmani ist ein Anführer der Erleuchtungs-Bewegung. Die hatte anfangs bloß für Strom im bitterarmen Hasara-Herzland, der Provinz Bamian, demonstriert. Aber in den vergangenen Monaten ist sie zu einer schlagkräftigen Massenbewegung herangewachsen, die «eine politische und wirtschaftliche Diskriminierung der Hasara» anprangert. Sie bringt Tausende Menschen auf die Straße, wenn sie will, und hat Dutzende kleinere Demonstrationen auch im Ausland organisiert - unter anderem in Deutschland, wo viele der Flüchtlinge Hasara sind.

Die Angriffe des IS treiben der Erleuchtungs-Bewegung nun noch mehr Anhänger zu - so behaupten es zumindest ihre Anführer, deren Haudrauf-Stil viele mit Sorge betrachten. «Die Hasara-Aktivisten müssen auch aufpassen, dass sie sich mit ihrer Rhetorik nicht einen neuen Bürgerkrieg herbeireden», warnt Thomas Ruttig.

Rahmani wiederum warnt vor Wut und Trotz in der Gemeinde. Drei Szenarion würden nun unter Hasara diskutiert. Erstens: «Separation! Wir machen in den Hasara-Provinzen unser Hasaristan auf.» Zweitens: «Hasara bewaffnen sich und verteidigen sich selbst.» Drittens: «Die Fatemiun-Brigade kommt aus Syrien wieder und kämpft hier gegen den IS statt dort.» Die Fatemiun-Brigade besteht aus Hasara, die die Iranischen Revolutionsgarden unter den afghanischen Flüchtlingen im Iran für ihre Pro-Assad-Truppen in Syrien rekrutiert hatten.

Von der Regierung wird das, was Rahmani als «Diskussion» über Tausende Hasara unter Waffen präsentiert, als Drohung verstanden. Rahmani erzählt, wie vor kurzem der Chef des Geheimdienstes NDS, Massum Staniksai, im Parlament auf ihn zugekommen sei, ihn umarmt und ihm dann ins Ohr geflüstert habe: «Du bist mein Freund - aber mach so weiter, und wir bringen dich um.»

Wörtlich war das vermutlich nicht gemeint. Staniksai gilt als kompetenter Manager, nicht als Killer. Aber es zeigt die Furcht der Regierung vor mehr ethnischer Zersplitterung in einem Land, das schon dem Konflikt mit den Taliban kaum mehr standhalten kann. Allein 2016 waren mehr als 30 000 Zivilisten und Sicherheitskräfte verletzt oder getötet worden.

Auch um die Anführer der Hasara zu besänftigen, hat Präsident Ghani nun einer «Moschee-Verteidigungsfront» zugestimmt. 33 der 211 schiitischen Moscheen in Dascht-e Bartschi und Dutzende in anderen Stadtteilen haben in den vergangenen Wochen Waffen bekommen. «Jeweils fünf Wächter werden von der Polizei ausgebildet», sagte der Polizeichef von Dascht-e Bartschi, Mohammed Resa Kohi.

Gleichzeitig bekämpfen die Regierung und die USA den IS weiter an anderen Fronten - zum Beispiel an seiner Basis in der Provinz Nangarhar, wo die USA im April die größte nicht-nukleare Bombe abgeworfen hatten. An den Ängsten in Dascht-e Barchi und am Misstrauen gegen die Regierung ändert das aber nicht viel. Es ist schon die Rede von Familienvätern, die Waffen kaufen. Überall hängen Banner mit Fotos der Opfer, an Moscheen, über Gassen, an Haustüren. Eine ständige Erinnerung an die neuen tiefen Gräben im Land.

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