Nahles mit Dämpfer zur SPD-Chefin gewählt

Foto: epa/Clemens Bilan
Foto: epa/Clemens Bilan

WIESBADEN (dpa) - Die SPD-Führung hatte sich ein Aufbruchsignal vom Parteitag in Wiesbaden erhofft. Das bleibt aus. Andrea Nahles muss bei ihrer historischen Wahl zur SPD-Vorsitzenden eine schwere Schlappe hinnehmen. Was wird nun aus dem Neuanfang bei der SPD?

Die SPD hat Andrea Nahles mit einem schwachen Ergebnis von nur 66,3 Prozent zur ersten Parteichefin gewählt - und ihr damit wenig Rückhalt für die geplante Erneuerung gegeben. Ein Sonderparteitag wählte die 47-Jährige am Sonntag in Wiesbaden zur ersten Vorsitzenden in der knapp 155-jährigen Parteigeschichte der Sozialdemokraten - allerdings mit einem schweren Dämpfer. Nahles' wenig prominente Gegenkandidatin, Flensburgs Oberbürgermeisterin Simone Lange, erhielt mit 27,6 Prozent ein überraschend starkes Ergebnis. Das zeigt einmal mehr die Zerrissenheit der Partei nach dem von Nahles mit forcierten Gang in eine weitere große Koalition.

Durch ihre mitunter polarisierende, den Konflikt nicht scheuende Art ist Nahles seit jeher kein Parteiliebling. Mit mauen Wahlergebnissen kennt sie sich aus. Ein derart schlechtes Resultat hat sie bislang aber noch nie eingefahren - und dies ausgerechnet zu einer Zeit, in der sie gefordert ist wie kein Parteichef vor ihr.

Die SPD war bei der Bundestagswahl 2017 unter ihrem damaligen Parteichef Martin Schulz auf ein Tief von 20,5 Prozent der Stimmen gesackt. Die harten Debatten über eine Beteiligung an einer weiteren großen Koalition haben eine tiefe Spaltung der Partei offenbart.

Nahles hat einen großen Erneuerungsprozess versprochen, parallel zur Regierungsarbeit in der GroKo. Sie selbst ist bewusst nicht in die Regierung gegangen, um an der Spitze von Partei und Fraktion das Profil der SPD zu schärfen. «Man kann eine Partei in der Regierung erneuern», sagte sie in Wiesbaden, «diesen Beweis will ich ab morgen antreten.» Die SPD müsse sich neu aufstellen und gute Politik für die Menschen machen. Gemeinsam seien die Sozialdemokraten stark. «Wir packen das. Das ist mein Versprechen.»

In ihrer Bewerbungsrede schlug Nahles zum Teil sehr persönliche Töne an. «Vor 30 Jahren bin ich in die SPD eingetreten. Die erste in unserer Familie. Katholisch. Arbeiterkind. Mädchen. Land. Muss ich noch mehr sagen.» Die erste Wahl einer Frau an die SPD-Spitze würdigte Nahles als historisch. «Viele Frauen kennen diese komische gläserne Decke, an die man immer wieder stößt.» Diese gläserne Decke in der SPD werde nun durchbrochen.

Mit Blick auf Russland forderte Nahles eine stärkere diplomatische Offensive. In der Partei gibt es leisen Unmut über die zunächst sehr harschen Töne gegen Russland vom neuen Außenminister Heiko Maas (SPD). Mit Blick auf europakritische Töne aus der Union kündigte Nahles eine Umsetzung des im Koalitionsvertrag vereinbarten Europa-Reformprogramms «Buchstabe für Buchstabe» an.

Als eine der Ziele für die kommende Zeit kündigte sie an, den digitalen Kapitalismus zu bändigen und große Internetkonzerne mehr zur Kasse zu bitten. Beim großen internen Streitthema Hartz IV sagte sie eine offene Debatte über Reformen zu. Gedanklich dürfe die SPD hier «keinen Stein auf dem anderen lassen». Sie mahnte aber: «Lasst uns die Debatte mit Blick auf das Jahr 2020 führen, nicht mit Blick auf das Jahr 2010.» Vom linken SPD-Flügel kommen Rufe nach Alternativen zu Hartz IV und der Agenda-Politik der Partei.

Nahles' Gegenkandidatin Lange forderte eine Kehrtwende bei Hartz IV und den Agenda-Reformen. Die SPD habe in Kauf genommen, dass heute Menschen arm seien, obwohl sie Arbeit hätten. «Und dafür möchte ich mich bei den Menschen, die es betrifft, entschuldigen.» Sie rief die Sozialdemokraten zu einem linken Kurswechsel auf. Die SPD müsse die Ideologie des Marktradikalismus durchbrechen. «Wir müssen wieder die Herzen der Menschen erreichen.»

Lange gab sich als Kandidatin der Basis, als Alternative zum Partei-Establishment und appellierte an den Mut der Partei zu echter Veränderung. Durchsetzen konnte sie sich damit nicht. Nach ihrer Niederlage gratulierte Lange Nahles zu ihrer Wahl und sagte ihr Unterstützung bei der geplanten Erneuerung der Partei zu.

Olaf Scholz, der die SPD bis zu Nahles' Wahl kommissarisch geführt hatte, appellierte an die Partei: «Wir müssen uns jetzt an die Arbeit machen.» Für die SPD beginne nun eine neue Zeit. Er rief seine Partei zu mehr Selbstbewusstsein auf. «Dass wir uns wieder zutrauen, dieses Land zu regieren, und dass wir wieder stärkste Partei werden, das muss das Ziel sein, das wir alle gemeinsam verfolgen.»

Besonders geschlossen präsentierte sich die Partei in Wiesbaden aber nicht. Nahles' Resultat ist das zweitschlechteste Ergebnis bei einer Wahl zum SPD-Vorsitzenden in der Nachkriegsgeschichte. Nur Oskar Lafontaine hatte 1995 weniger Stimmen erzielt (62,6 Prozent), als er damals - unterstützt von der damaligen Jusos-Chefin Nahles - den Vorsitzenden Rudolf Scharping stürzte. Die Abstimmung in Wiesbaden war nach 1995 erst die zweite Kampfkandidatur um den SPD-Vorsitz.

Linksfraktionschefin Sahra Wagenknecht legte den Finger in die Wunde. «Nahles ist und bleibt sogar in der eigenen Partei unpopulär», sagte Wagenknecht der Deutschen Presse-Agentur. «Offenbar verbinden selbst viele SPD-Delegierte mit Nahles keinen Neuanfang und keine dringend notwendige soziale Wende.»

Überzeugen Sie sich von unserem Online-Abo:
Die Druckausgabe als voll farbiges PDF-Magazin weltweit herunterladen, alle Artikel vollständig lesen, im Archiv stöbern und tagesaktuelle Nachrichten per E-Mail erhalten.
Pflichtfelder
Ingo Kerp 23.04.18 18:00
Die reichlich auf Krawall gebürstete Nahles hat mit einem beschämend knappen Ergebnis die Wahl gegen eine blasse und nichtssagende Gegnerin gewonnen. Ob es mit ihr die gebetsmühlenartig wiederholte Erneuerung gibt, darf bezweifelt werden, da die SPD weiterhin in der Groko-Zwangsjacke der Merkel steckt.
Jürgen Franke 23.04.18 10:02
Der Untergang der SPD wird leider
auch mit einer Nahles, nicht aufzuhalten sein. Regieren, obwohl man lieber in die Opposition gegangen wäre, funktioniert nicht. Die Probleme, die jetzt auf dem Tisch liegen, sind nicht unbekannt, und hätten längst gelöst werden müssen.